Wer muss zuerst auf Gas verzichten?

Klagen der Unternehmen finden Gehör beim Bundeswirtschaftsminister
Frankfurt -Was, wenn Russland uns den Gashahn vollends abdreht? Seit Monaten treibt diese Frage ganz Deutschland um, bereitet sich der Bund auf den Notfall vor: Das LNG-Beschleunigungsgesetz ist ebenso verabschiedet worden wie das Gasspeichergesetz; das Energiesicherungsgesetz ist novelliert, die Frühwarnstufe des Notfallplans Gas längst aktiviert; die zuständige Bundesnetzagentur wappnet sich, das Gas im Ernstfall zu rationieren. Aber die Frage, wer wird zuerst abgeschaltet, wer soll weiter beliefert werden? scheint noch nicht beantwortet zu sein.
Habeck tritt
Debatte los
"Geschützte Kunden bleiben geschützte Kunden", hatte es mit Blick auf die privaten Haushalte im Wirtschaftsministerium von Robert Habeck stets geheißen, das sich damit auf verbindlich geltende europäische Regeln bezog. Denn die europäische Notfall-Verordnung Gas, auf der der deutsche Notfallplan beruht, sieht vor, dass den privaten Verbrauchern und der kritischen Infrastruktur des Landes wie etwa Krankenhäusern und Kindergärten im Notfall nur dann das Gas abgestellt werden, nachdem zuvor alle anderen Kunden - vor allem Kraftwerke und Industrieunternehmen - nicht mehr bedient werden. Eine Debatte dies zu ändern, hatte es bisher in Europa nicht gegeben.
Genau das will Habeck nun anscheinend ändern. Die europäische Notfall-Verordnung Gas sei sinnvoll "bei kurzfristigen und regionalen Problemen - etwa wenn ein Kraftwerk ausfällt", sagt der Minister. "Und dann sagt man naja, das überbrücken wir mit Kurzarbeitergeld für die Industrie und wir reparieren dann später, aber frieren soll niemand. Das ist aber nicht das Szenario, das wir jetzt im Moment haben", meint Habeck. "Wir reden hier möglicherweise von einer monatelangen Unterbrechung von Gas-Strömen." Deshalb müsse an dieser Stelle nochmal nachgedacht und nachgearbeitet werden. Da müssten private Haushalt "ihren Anteil leisten", findet Habeck. Seine Begründung: "Eine dauerhafte oder langfristige Unterbrechung von industrieller Produktion" hätte "massive Folgen" für die Versorgungssituation.
Die Bevorzugung der Privatkunden gegenüber der Industrie hatte in den vergangenen Monaten Unmut bei einzelnen Industrievertretern hervorgerufen. Ist die Industrie doch der größte Gas-Abnehmer: 2021 verbrauchte sie 37 Prozent allen Gases in Deutschland. Gestern meldete sich der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) zu Wort: "Der Bundeswirtschaftsminister stellt zu Recht die Frage, ob der Status des ,geschützten Verbrauchers' in einer Gas-Krise von bisher ungeahnter Dimension noch richtig definiert ist", sagte VDMA-Präsident Karl Häusgen. Vergangene Woche argumentierte der Chef des Chemieindustrieverbands VCI, Christian Kullmann: "Die Sicherung der Arbeitsplätze und damit das Einkommen ist für die Familien sehr wichtig und steht für die Gesellschaft höher als die Sicherstellung der privaten Gasversorgung." NRW-Unternehmer-Präsident Arndt Kirchhoff fragte, "was haben die Leute davon, wenn sie ihre Wohnungen warm haben, aber keinen Job mehr?"
Auch technische
Hürden
Die Frage mag legitim sein. Aber tatsächlich erscheint eine umgekehrte Reihenfolge im Ernstfall nicht umsetzbar. Zum einen aus juristischen Gründen: Da der deutsche Notfallplan auf der sogenannten SoS-Verordnung der EU beruht, könnte die Bundesregierung nicht einfach Privathaushalte in den Abschaltprozess einbeziehen, von dem im Notfall Industrie und andere Teile der Wirtschaft betroffen sind.
Zum anderen erscheint dies aus technischen Gründen unrealistisch. Würden die Netzbetreiber privaten Haushalten das Gas abdrehen, müssten sie im Regelfall ganze Straßenzüge abriegeln. Ob dort ein Altersheim oder ein Krankenhaus angesiedelt ist, ließe sich dabei laut Experten nicht berücksichtigen. Eine zielgenaue Abschaltung der Haushalte wäre unmöglich. Es sei denn, man würde den Zugang jedes einzelnen Hauses absperren - wie es etwa geschieht, wenn Verbraucher ihre Rechnungen nicht bezahlen. Bei Millionen Haushalten ist das aber kaum vorstellbar.
Unmöglich ist auch eine Rationierung privater Haushalte, also eine Reduktion der Gasmenge um beispielsweise 10 oder 20 Prozent. Technisch geht nur Ein oder Aus - also gar kein Gas mehr. Bei großen Industriebetrieben ist das einfacher. Sie haben einen eigenen Abschalt-Regler auf dem Werksgelände, einige können die Gasmenge damit senken.
Letztlich kann die Bundesregierung nur das in der vergangenen Woche novellierte Energiesicherungsgesetz anwenden, das ihr den Erlass von Verordnungen zur Energie-Einsparung ermöglicht. Dabei könnte es zum Beispiel darum gehen, Vorgaben zu Mindesttemperaturen beim Heizen abzusenken. Aber überwachen ließe sich das nicht. Deshalb flehen Habeck und die Bundesnetzagentur, die Bürger an, Verzicht zu üben. In einer Gas-Notlage sei es kaum mehr gerechtfertigt, dass Privatverbraucher ihre Sauna laufen ließen oder große Singlewohnungen ständig beheizt würden. mahnte der Chef der Netzagentur, Klaus Müller. Und Habeck gab als Faustformel aus: "Zehn Prozent Einsparung geht immer."