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Warten auf die Wohnung

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Von: Kerstin Schneider

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Feldbetten in der Notunterkunft im Dorfgemeinschaftshaus Flensungen. Hier wohnen derzeit 14 Menschen aus der Ukraine. © Kerstin Schneider

Mit dem Krieg sind auch im Vogelsberg viele Menschen aus der Ukraine angekommen. Ihr Alltag ist von Bangen und Hoffen bestimmt. Bangen um die Heimat und die Hoffnung auf Besserung und eine eigene Wohnung.

Sascha, Nadja und einige andere sitzen auf Plastikstühlen in einer Ecke am Gemeinschaftshaus Flensungen. Es tut gut, ein bisschen in der frischen Frühlingsluft zu sein, wenn man ansonsten die Zeit mit 14 Leuten drinnen verbringen muss. Selten lassen sie das Smartphone aus dem Auge, es könnten ja Neuigkeiten aus der Heimat eingehen.

Mobilfunkanbieter haben kostenloses WLAN für diese wie für andere Notunterkünfte bereitgestellt. Das ist wichtig. Das Handy ist die so ungeheuer bedeutsame »Nabelschnur«, die die Flüchtlinge mit denen verbindet, die in der Ukraine zurückgeblieben sind.

Nadja zeigt das Foto eines Mannes in voller Kampfuniform, der stolz ein neugeborenes Baby in den Armen hält und in die Kamera lacht, es ihr Schwager. Das Leben steht nicht still in der Heimat, trotz des Schreckens, den die russischen Angriffe verbreiten. Nadja hat noch ihre Tochter mit deren Ehemann in der Ukraine, jeden Tag bangt sie, dass ihnen nichts passiert. Die Tochter hätte mitgehen können, wollte aber ihren Mann nicht alleinlassen.

Alle sind freundlich, wirken aber bedrückt und in Gedanken woanders. »Wenn ich morgens aufwache, schaue ich gleich nach den Nachrichten, ob es etwas Neues gibt«. Das gilt für alle hier. Natürlich hoffen sie auf gute Neuigkeiten.

Sascha (23) ist schon seit Dezember in Deutschland, seine Familie sah das Unheil kommen und riet ihm zur Flucht. Seine Eltern leben noch in Odessa und hoffen weiter. Aber auch in der Stadt am Schwarzen Meer sind bereits Geschosse eingeschlagen und haben etwa eine Hauptzufahrtsbrücke getroffen, die für die Versorgung der Menschen wichtig ist.

Brötchen und Borschtsch

Nun lebt er mit 13 weiteren Menschen, noch sechs Männer und sieben Frauen, in Flensungen und wartet darauf, endlich eine eigene Wohnung beziehen zu können. Sieben Männer? Müssen nicht alle gegen Putins Armee kämpfen? Nein, es sind Armenier darunter und ein Marokkaner, die ausreisen durften, ein Mann wurde ausgemustert, ein anderer ist schon 77 Jahre alt.

Über die Flucht und das, was in ihrem Heimatland gerade geschieht, möchten die meisten lieber nicht reden. Es belastet sie zu sehr, macht eine Frau deutlich, es würde sie zu sehr aufregen - »mein Blutdruck« sagt sie mit einem entschuldigenden Ausdruck. Sie kamen alle auf verschiedenen Wegen hierher - mit dem Bus oder Zug teilweise direkt nach Deutschland, manche auch über Auffanglager in Polen.

In den fünf Wochen hat sich längst eine gute Versorgungslage eingependelt. Einmal pro Woche fährt Andre Kern von der Gemeindeverwaltung mit den Leuten zum Einkaufen. Morgens gibt es Brötchen, die »Alte Mücke« liefert, es wird aber viel selbst gekocht. »Ohne Borschtsch geht für manchen nichts«, sagt Andre Kern und lacht. Das Nationalgericht aus dem Osten ist eine Art Suppe und besteht vor allem aus Roter Beete und Weißkohl.

Die Notunterkunft im DGH, in der zwei Abteile mit Feldbetten durch eine mobile Wand notdürftig getrennt sind, möchten alle lieber heute als morgen verlassen. »Es ist die tägliche Frage: Wann können wir in unsere Wohnung?« sagt Andre Kern. Er ist das »Mädchen für alles« vor Ort, er kümmert sich, hört einfach zu oder wie Sascha es ausdrückt: »Er ist unser Held.« Kern winkt ab: »Ich bin Teil dieser großen Familie geworden und es kommt so viel zurück. Es sind so liebe und dankbare Menschen und ich bin froh, dass ich sie kennengelernt habe.« Umso trauriger würde es ihn trotz der Freude über eine eigene Unterkunft für die Leute stimmen, wenn sie weit weg in Wohnungen in Schlitz oder Schotten ziehen würden, was je nach Zuweisung durchaus sein könnte.

Im Foyer des Flensunger Gemeinschaftshauses hängt ein buntes freundliches Bild, das Kindergartenkinder für die Ankömmlinge gemalt haben. Im Aufenthalts- und Essraum liegen Broschüren aus, die unter anderem kleine Sprachführer enthalten.

Jeder Geflüchtete bekommt ein kleines Taschengeld vom Kreis, damit außer Lebensmittel andere notwendige Dinge beschafft werden können. Die Frauen und Männer teilen sich den Dusch-Container vor der Tür und die Toiletten im DGH.

Die Frauen, die zunächst eher schweigsam waren, werden im Gespräch plötzlich lebhaft: »Wir sind so dankbar, wie gut wir hier aufgenommen wurden«, übersetzt Sascha, der recht gut Englisch spricht. Auch ihm ist es ein Anliegen, aus vollem Herzen Danke zu sagen. »Wir wissen das so sehr zu schätzen und danken allen, die uns helfen.« Die einfach mal zwei Körbe mit Lebensmitteln vorbeibringen, sie zum Arzt oder aufs Amt fahren. Für etliche aus Flensungen ist das inzwischen zu einer Selbstverständlichkeit geworden.

Bürgermeister Andreas Sommer, der beim Gespräch dabei ist, freut sich über die große Hilfsbereitschaft, die man in den vergangenen Wochen erlebt hat. So habe sich auch in Atzenhain ganz schnell eine »recht große Gemeinschaft« um die dort lebenden beiden ukrainischen Familien gebildet, auch in Nieder-Ohmen gebe es große Solidarität. Zudem engagierten sich die Kirchen sehr, zum Beispiel mit Gottesdiensten, Flohmärkten, Café-Treffen und anderem mehr, zählt er auf. Über weitere Helfer würde man sich trotzdem noch freuen.

Am Ende zeigt Nadja noch einen Satz, den sie mit ihrem Smartphone ins Deutsche übersetzt hat: »Gemeinsam mit unserem Präsidenten hoffen wir auf ein Ende des Kriegs.«

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In den Unterkünften liegen kleine Sprachführer aus. © Kerstin Schneider

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