Rund um die Uhr ein offenes Ohr

Ängste, Depressionen, Einsamkeit oder Konflikte mit anderen Menschen gehören zum Leben vieler Menschen. Manchmal treten seelische Probleme akut auf. Dann kann ein Gespräch mit einem Menschen von der Telefonseelsorge kurzfristig beruhigen, vielleicht sogar weiterhelfen. Gefragt ist sie auch anden Feiertagen.
Die evangelisch-katholische Telefon-Seelsorge Gießen-Wetzlar ist für die Region zwischen Limburg und Alsfeld zuständig. Dort arbeiten rund 80 geschulte Frauen und Männer mit - alle ehrenamtlich. Bundesweit sind es gut 7500.
Irgendwo in Mittelhessen. Es ist nach Mitternacht. Beim Blick nach draußen zeigen sich nur noch wenige Fenster hell, die allermeisten sind dunkel. Die Menschen schlafen. Vera schläft nicht, auch Oliver nicht. Die beiden haben Nachtdienst in der TelefonSeelsorge.
Einmal im Monat übernehmen sie eine Nachtschicht, bleiben wach zu nachtschlafener Zeit und führen Gespräche mit Menschen, die nicht in den Schlaf finden. Die sich überwältigt fühlen von ihren Gedanken und Sorgen. Sorgen halten sich nicht an Öffnungszeiten irgendwelcher Beratungsstellen, das haben die beiden schnell erfahren. Ebenso die Dankbarkeit für ihre Bereitschaft, auch zur ungewöhnlichen Zeit für andere da zu sein.
»Telefonseelsorger/innen hören sich die leidvollen Geschichten fremder Menschen an und öffnen ihnen für eine begrenzte Zeit Ohr und Herz«, erzählt Pfarrerin Martina Schmidt, die evangelische Leiterin der Telefon-Seelsorger. Ratschläge erteilen die Mitarbeitenden nicht, sie bewerten nicht und stellen keine Diagnosen. Nachdenklich greift Vera nach der wärmenden Decke und legt sie sich über die Beine, nimmt einen Schluck Kaffee, der sie wachhält. Noch denkt sie an die alte Dame, die sich ihrer Einsamkeit Tag und Nacht bewusst ist. Es ist bedrückend, zu hören, dass das gemeinsame Gespräch das erste für die Anruferin in der gesamten Woche war.
Auch Oliver atmet tief. Er fühlt sich hilflos. Ja, das Gespräch war gut! Aber die unheilbare Krankheit des Anrufers kann er auch nicht heilen. Ach, wie gern täte er das, läge es nur in seiner Macht. Aber immerhin konnte der Anrufer reden. Offen reden. Ohne Rücksicht auf die Gefühle der Angehörigen, die genauso überfordert sind wie der Anrufer selbst.
Reden tut gut. Der Anrufer fühlte sich verstanden und konnte seine Gedanken sortieren. Oliver beschließt, eine Pause zu machen. Jetzt braucht er ein wenig frische Luft. Und Abstand. Um frei zu sein für die nächste Person und ihr Anliegen am Telefon.
Was in dieser Nacht noch kommt an Gesprächen und Themen, wissen beide Mitarbeiter der Telefon-Seelsorge nicht. Das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass sie da sind und offen sind für die Anliegen der Ratsuchenden. Dass sie den Anrufenden zuhören und sie respektvoll begleiten für die Dauer dieses Gesprächs. Angst vor bestimmten Themen haben Vera und Oliver nicht mehr. »Wir haben gelernt, worauf es ankommt. Und wir haben erfahren, dass wir den Gesprächen gewachsen sind.«
»Die typische Telefon-Seelsorgerin gibt es nicht«, sagt Pfarrerin Schmidt. Männer wie Frauen unterschiedlichen Alters, Pensionäre und Studierende, Menschen aus verschiedenen Milieus, die in unterschiedlichen Berufen arbeiten. »Was alle verbindet, ist die Bereitschaft, sich Menschen unvoreingenommen und vorurteilsfrei zu öffnen.«
Gegründet wurde die Telefon-Seelsorge in Deutschland als Suizidprävention rund zehn Jahre nach Ende des Kriegs vor dem Hintergrund besorgniserregend hoher Zahlen von Selbsttötungen. KZ-Haft, Krieg, Vergewaltigung oder Vertreibung hatten tiefe Spuren in den Menschen hinterlassen. Angemessene Behandlung »posttraumatischer Belastungsstörungen« nach extrem bedrohlichen Erlebnissen gab es im Nachkriegsdeutschland noch nicht, erzählt Martina Schmidt.
Auch wenn die Suizidrate in den letzten Jahrzehnten gesunken ist, gibt es die Aussage »Ich halte das Leben nicht mehr aus« häufiger. Vor allem in der Chat- und Mailarbeit der Telefon-Seelsorge wenden sich Ratsuchende mit diesem Thema an die Seelsorger.
Haben die Seelsorger den Eindruck, dass Suizidgedanken angedeutet werden, fragen sie konkret nach: Was meinen Sie damit? Denken Sie daran, sich das Leben zu nehmen? In der Anonymität am Telefon, in E-Mails oder Chats können Menschen das offen ansprechen. Mitarbeitende der Telefon-Seelsorge erschrecken darüber nicht, sondern bieten Hilfesuchenden einen offenen Raum für ihre Not. Manchmal öffnen sich für Menschen Perspektiven, wenn sie darüber sprechen, was ihnen in der letzten Krise geholfen hat. Und oft entdecken sie, dass sie nicht ihr Leben beenden möchten, sondern ihr Leiden.
Neben immer wiederkehrenden Themen wie Einsamkeit, Liebeskummer, Krankheit, Trauer und Tod gibt es natürlich die aktuellen gesellschaftlichen Themen, die sich am Telefon widerspiegeln: Ökologische Bedrohung, Krieg in der Ukraine und Energiekrise. Das macht Menschen Angst. Sie fürchten sich, selbst in Not zu geraten und den Entwicklungen hilflos ausgeliefert zu sein. Die Nachrichten erschüttern immer aufs Neue. Natürlich sind die gesellschaftlichen Probleme am Telefon kaum zu lösen.
Im Februar startet Ausbildungskurs
»Darum geht es auch nicht«, sagt Pfarrerin Martina Schmidt, »doch wer bei der Telefon-Seelsorge anruft, chatten oder mailen möchte, kann darauf vertrauen, auf ein Gegenüber zu treffen, das freundlich wandt zuhört und für begrenzte Zeit für einen echten Kontakt zur Verfügung steht.«
Im Februar 2023 startet eine neue Ausbildungsgruppe. Die Ausbildung beginnt mit einem Vorgespräch. Wenn dies positiv verläuft, kann die einjährige Ausbildung im Umfang von circa 150 Stunden beginnen. Sie besteht im Wesentlichen aus drei Teilen: Der Selbsterfahrung, der Vermittlung psychologischen Grundwissens und dem Praxistraining. Bewerbung ist möglich unter www.telefonseelsorge-giessen-wetzlar.de oder telefonisch bei der Geschäftsstelle unter 06 41/3 30 09.