Mehr als ein Marmeladenbrot

Bahnhofsmission - das klingt ein bisschen altertümlich. Dabei ist die Einrichtung der Diakonie in unseren aus den Fugen geratenen Zeiten mehr denn je ein Ort für Gestrandete aller Art sowie für Reisende, die eine helfende Hand gebrauchen können. Der Rückzugsort inmitten des hektischen Bahnhofs funktioniert nur dank ehrenamtlicher Helfer.
Meistens wartet schon jemand auf der Bank vor der Tür, wenn die Mitarbeiter morgens kommen. »Montags ist besonders viel los«, sagt Dagmar Seel. Die 69-Jährige sitzt im Büro der Bahnhofsmission, das gleichzeitig als Küche und Besprechungszimmer dient. Sie schmiert Brote. An diesem Morgen gibt es wahlweise Schmalz oder Marmelade. Ihr junger Kollege Florian Perrot kocht währenddessen Kaffee.
»Ich habe Hunger«, hat eben ein älterer Mann am Tresen gesagt. Hinter ihm liegt ein langes Wochenende ohne Ansprache und ohne richtige Mahlzeiten. »Wir hören das oft von unseren Gästen«, sagt Seel. An der Tür der Bahnhofsmission klingeln Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen gestrandet sind. Viele sind psychisch krank, alkohol- oder drogenabhängig, manche sind obdachlos, einsam und verwirrt, manchmal kommt auch alles zusammen. Und manchmal kommt auch ein Reisender vorbei, der einfach eine Verschnaufpause braucht. »Willkommen sind sie alle«, sagt Elisabeth Njionhou Njomehe, die Leiterin der Bahnhofsmission,
Was die Menschen in der Stube der Bahnhofsmission finden, ist mehr als ein Marmeladenbrot und eine Tasse Kaffee. Sie werden höflich und freundlich bedient wie in einem Café, auf den Tischen stehen kleine Blumensträuße, im Gegensatz zur lärmenden Welt da draußen ist es hier ruhig. Ein Rückzugsort inmitten des hektischen Bahnhofs. Dagmar Seel und Florian Perrot geben den Gästen das, was sie brauchen an diesem Tag. Die einen wollen in Ruhe gelassen werden, andere sehnen sich nach einem Gespräch. Eines jedoch ist hier oberstes Gesetz: Jedem wird mit Respekt begegnet. »Es geht um Würde«, sagt Dagmar Seel.
Die 69-Jährige war früher Verwaltungsangestellte in einer großen Behörde. Als sie in den Ruhestand ging, stand für sie fest, dass sie sich ehrenamtlich betätigen wollte. Sie hat gleich zwei Bereiche gefunden, die ihr Freude machen. Sie engagiert sich sowohl in einem Demenzprojekt als auch bei der Bahnhofsmission. Ihr gefällt die Arbeit. Sie bringt mit ihrer freundlichen Art einen Lichtblick in das Leben von Menschen, in deren Alltag es eher düster zugeht. »Die Wertschätzung der Gäste gibt mir viel zurück«, sagt sie.
Natürlich gebe es auch andere Situationen. Dann zum Beispiel, wenn Gäste fordernd oder aggressiv seien. Aber das seien Ausnahmen, bei denen gegebenenfalls die benachbarte Bahnpolizei einschreite. Problematischer sei es, wenn ein Mensch in einer akuten Lebenskrise vor ihr sitze.
Wertschätzung
als großes Glück
Die Ehrenamtlichen werden auf solche Situationen vorbereitet, im Notfall verständigen sie den Rettungsdienst. Die Bahnhofsmission, ist in der Stadt gut vernetzt und kann Anlaufstellen für unterschiedliche Bedürfnisse nennen, schildert Njionhou Njomehe. Bei der Sozialarbeiterin laufen alle Fäden zusammen, sie koordiniert auch die Arbeit des ehrenamtlichen Teams.
Neben der Unterstützung im Gastraum spielt sich ein Großteil der Arbeit der Bahnhofsmission »draußen« auf den Gleisen ab. Dort gibt es Hilfe beim Umsteigen oder beim Gepäcktransport. Für ältere Menschen mit Bewegungseinschränkungen oder auch für »ungeübte« Reisende (z. B. Kinder) ist dies ein wertvoller Service. Die Ehrenamtlichen in den leuchtend blauen Westen sind auch hier ein Lichtblick, denn dank ihrer Anwesenheit trauen sich Senioren längere Bahnreisen zu und wissen Eltern ihren Nachwuchs sorgsam begleitet.
Auch Florian Perrot mag sein Ehrenamt. Der 24-Jährige kam vor einigen Monaten ins Team, nachdem er mit seiner schwangeren Freundin auf einer Reise Hilfe der Bahnhofsmission bekommen hatte. Da ihm die zugewandte Art imponierte, schloss er sich an.
Die praktische Hilfe für Fremde ist auch eine Art Erdung, sagt Dagmar Seel, sie lehre ein Stück Demut und Dankbarkeit. Die 69-Jährige hat selbst vor einigen Jahren eine schwere Krankheit überstanden, vielleicht hat auch diese Erfahrung ihren Blick für das Schicksal anderer geschärft. Der Teller mit Marmeladenbroten ist leer. Ein junger Mann klopft und bittet um eine Flasche Wasser, eine ältere Frau verabschiedet sich mit einem kurzen Gruß. »Danke für alles, ich komme morgen wieder.«