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Hobby zum Beruf gemacht

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Fachkräftemangel? Da sollte sich doch was finden lassen, dachte sich Jürgen Becker aus Mücke, der mit 57 seine Arbeitsstelle verlor. Doch dann belehrte ihn die Realität in vielen Firmen eines Besseren. Am Ende ging es gut aus. Denn er hat sein Hobby zum Beruf gemacht.

Da soll man bis 67 arbeiten, findet aber schon mit 57 nichts mehr. »Das ist doch Diskriminierung«, ärgert sich Jürgen Becker. Der jung gebliebene 60-Jährige hat in seinem Berufsleben schon viel gemacht und jetzt hat er sein Hobby zum Beruf gemacht, wenn auch ungeplant.

Von Haus aus ist Jürgen Becker Elektroinstallateur. Viele Jahre hat er als Mechatroniker bei zwei Unternehmen Anlagen gewartet und repariert. Nach einer Qualifizierung zum staatlich geprüften Techniker Maschinenbau und technischen Betriebswirt sowie einem Abschluss im Bereich Qualitätsmanagement war er bis Anfang 2019 mit der Erstellung von Sonderanlagen beschäftigt. Dann wurde Becker arbeitslos, mit 57 Jahren.

Zuversichtlich sichtet er Online-Stellenbörsen, informiert sich in der Zeitung über Arbeitsstellen und bewirbt sich auf Vermittlungsvorschläge der Arbeitsagentur. In Zeiten des Fachkräftemangels sollte es kein größeres Problem sein, schnell wieder unterzukommen, war sich Becker sicher. Knapp 2,5 Jahre erfolglose Arbeitsstellensuche haben ihn eines Besseren belehrt.

»Viele Betriebe wollen junge Leute, die mit 28 Jahren 30 Jahre Berufserfahrung haben und verdienen wie ein Lehrling. Das Alter ist für viele Arbeitgeber ein Problem. Nachdem ich auf schriftliche Bewerbungen meistens keine Rückmeldung erhalten habe, bin ich dazu übergegangen, mich telefonisch zu bewerben. Hier wurde ich in acht von zehn Fällen sofort nach meinem Alter gefragt. Das war echt deprimierend.«

Ausbleibende Absagen, Standardformulierungen, vertrösten, hinhalten. All das musste Becker immer und immer wieder erfahren. Immer häufiger ging er in die Offensive, fragte Arbeitgeber nach den Beweggründen, die hinter den Absagen stecken. Wahrscheinlich zu hohe Gehaltsforderungen aufgrund Alter und Qualifikation, vermutete gesundheitliche Einschränkungen und Überqualifikation waren Aussagen, die Becker Arbeitgebern entlocken konnte. »Alles Punkte, die man im Gespräch hätte klären können.« Der Leidensdruck vieler Betriebe scheine noch nicht groß genug. An das Thema Fachkräftemangel müsse er aufgrund seiner Erfahrungen ein großes Fragezeichen machen.

Das sieht sein jetziger Arbeitgeber, die Firma TNL Umweltplanung mit Sitz in Hungen, anders. »Noch vor Jahren gingen bei uns auf eine Stellenausschreibung in einer Woche über 40 Bewerbungen ein. Diese Zeiten sind vorbei«, sagt Tim Fischer, zuständig für die Personalabteilung. »Wir sind auf Messen vertreten, arbeiten mit den Hochschulen zusammen und wir haben eine Social-Media-Expertin eingestellt.«

Das Umweltplanungsbüro, das Anfang der 1990er Jahre mit drei Personen gestartet ist, zählt nun über 140 Beschäftigte an vier Standorten. Das Umweltplanungsbüro ist überall dort eingebunden, wo aufgrund von Bauprojekten in die Natur eingegriffen wird. Und genau deshalb arbeitet Jürgen Becker seit März 2022 bei TNL nicht als Hausmeister, worauf er sich beworben hatte, sondern als Kartierer in der floristischen und faunistischen Erfassung.

»Das war ein Zufall«, erinnert sich Becker. »Ich wurde vom Geschäftsführer zum Vorstellungsgespräch auf meine Bewerbung als Hausmeister eingeladen. Im Besprechungsraum hing das Bild einer Libelle. Als ich ihm erklärte, welche Libellenart dort zu sehen ist, wurde er hellhörig.« Becker ist sehr naturverbunden, vor allem Vögel, Libellen und Amphibien haben es ihm angetan. Schon als Kind begleitete er seinen Opa in die Natur. Anfang der 90er Jahr gründete er die NABU-Gruppe Grünberg. Die Fauna und Flora rund um seine Heimat begeistern ihn bis heute. Becker hat nun sein Hobby zum Beruf gemacht. Er ist aktuell in der Kartierung von Vogelarten und Amphibien zur Standortbewertung von geplanten Windkraftanlagen beschäftigt. Obwohl Becker sich aufgrund seiner Erfahrungen sehr versiert in der Natur bewegt, befindet er sich noch in der Einarbeitungsphase. »Da wir eine sehr vielschichtige Dienstleistung anbieten, ist eine gute Einarbeitung das A und O«, erklärt Fischer. »Fachliche Inhalte kann man lernen, viel wichtiger ist uns, dass neue Mitarbeiter naturverbunden sind und unsere Philosophie der Nachhaltigkeit teilen«, fügt er an. Ob das Alter eine Rolle spielt? Das sei unerheblich, Hauptsache die Leute passen in unser Team, versichert Fischer.

»Einarbeitungszeiten im neuen Unternehmen oder fehlende Qualifikationen kann die Arbeitsagentur Gießen mit einem Eingliederungszuschuss an den Arbeitgeber finanziell ausgleichen«, erklärt Daniela Hach von der Arbeitsagentur. »Um Fachkräfte zu halten und weiterzubilden, bietet das Qualifizierungschancengesetz viele Möglichkeiten.«

Auch Beckers neuer Arbeitgeber hat den Eingliederungszuschuss erhalten. So konnte die Zeit, bis Becker als Kartierer richtig fest im Sattel sitzt, für das Unternehmen etwas besser überbrückt werden.

Jürgen Becker ist jedenfalls angekommen. Er hat keinen Job, sondern eine neue Arbeit gefunden, versichert er.

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Als Hausmeister hatte er sich beworben, nun arbeitet Jürgen Becker für eine Hungener Firma in der floristischen und faunistischen Kartierung. © Red

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