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Hilfe für »gefallene Mädchen«

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Die Näherei war eine von vielen Möglichkeiten, eine Ausbildung im Haus am Kirschberg zu absolvieren. Ab Anfang der 1970er Jahre machte die Einrichtung bundesweit Furore. © Red

Sie hießen »gefallene Mädchen« oder »uneheliche Mütter« und waren in der Gesellschaft der 1960er Jahre ohne Chancen. Ihr Alltag war nicht selten geprägt von Not und Abhängigkeit. Hier bot das Haus am Kirschberg in Lauterbach eine Zuflucht. Ein Blick in die 50-jährige Geschichte des Hauses und die Anfänge.

Genau genommen war es ein Zufall, dass Sigrid und Werner Krauss 1972 das leer stehende Hotel »Haus am Kirschberg« erwarben. Es war erschwinglich und eignete sich gut für den Betrieb eines Heimes, das alleinerziehenden Müttern und ihren Kindern ein Zuhause auf Zeit geben sollte. Aus der für damalige Verhältnisse äußerst innovativen Idee, die anfangs nicht überall mit Wohlwollen gesehen wurde, entwickelte sich eine wichtige Einrichtung nicht nur im Vogelsberg, sondern im ganzen Land.

Denn der Alltag der sogenannten gefallenem Mädchen oder »unehelichen Mütter« war nicht selten geprägt von Not und Abhängigkeit, von Wohn- und Arbeitssituationen, die es nicht ermöglichten, ihre Kinder so zu versorgen und zu erziehen, dass für beide - Mutter und Kind - eine Perspektive erwachsen wäre. Adoption oder öffentliche Erziehung, also die Heimunterbringung, waren gesellschaftlicher Konsens.

Diese Erfahrung machte das Ehepaar Sigrid und Werner Krauss, das zu dieser Zeit ein privates Kinderheim im Rhein-Main-Gebiet betrieb. Viele der betreuten Kinder wurden von den alleinerziehenden Müttern aus der blanken Not heraus abgegeben, die Trennung von der Mutter, die Erziehung im Heim schufen oft zusätzliche Probleme.

Die Folge war, dass auch diese Kinder ihren eigenen Kindern nicht geben konnten, was für eine gesunde Entwicklung nötig wäre. So entstand ein Teufelskreis von Not und Ausgrenzung über Generationen hinweg. Sigrid und Werner Krauss wollten diesen Teufelskreis überwinden und es gelang ihnen, mit einer für diese Zeit außerordentlichen Spendenkampagne so viel Geld einzuwerben, dass sie das Haus am Kirschberg anzahlen konnten.

Dafür hatten sie bereits im Jahr 1967 den Verein »Hilfe für das verlassene Kind« gegründet. Aus dem ganzen Bundesgebiet gingen Spenden ein - ein Zeichen dafür, dass bereits viele Menschen die Not der jungen Frauen und ihrer Kinder erkannt haben. Dennoch waren bis zur Umsetzung der Idee fünf Jahre Vorbereitung und fünf Jahre Spendensammeln nötig.

In diese Zeit fiel auch die Entwicklung des Konzepts für das Haus am Kirschberg: Ein Mutter-Kind-Haus, in dem Frauen Schutz, Sicherheit, Betreuung und Förderung erfahren sollten. Wertschätzung sollten sie erleben, eine Chance auf ein eigenständiges Leben mit ihrem Kind bekommen. »Die Idee eines solchen Hauses war neu, nicht nur für die Region, sondern für die ganze Bundesrepublik«, erinnert sich Bodo Kester, langjähriger Geschäftsführer des Hauses am Kirschberg und von der Vereinsgründung an Weggefährte der Familie Krauss, damals noch als Zivildienstleistender. Trotz des hohen Spendenaufkommens waren die Anfangsjahre geprägt von großer Unsicherheit für die Betreiber, die Gesetzgebung hatte für die Finanzierung eines solchen Angebots noch keinen Rahmen geschaffen.

Der Verein funktionierte zwar als Träger, doch die finanziellen Mittel, die sich noch heute zu einem wichtigen Teil aus Spenden zusammensetzen, waren nach dem Kauf der Immobilie aufgebraucht. Einweisende Stellen waren oft Jugendämter aus Städten aus dem ganzen Bundesgebiet. Dass es damals gelang, das Haus am Leben zu halten, trotz der Kreditverpflichtungen, der laufenden Kosten und des nicht kostendeckenden Pflegesatzes, sei auch auf die Bereitschaft zur Selbstausbeutung aller Beteiligten zurückzuführen.

Mit seinem Konzept beeindruckte das Haus die bundesdeutsche Jugendhilfelandschaft, wo es mehr und mehr an Renommee gewann. Im ersten Jahrzehnt bereits konnten neue pädagogische Formen für die Frauen und ihre Kinder entwickelt werden. »Wir sahen, dass die Frauen nur dann eine Chance hätten, ein eigenständiges Leben zu führen, wenn sie eine Berufsausbildung hätten und am Arbeitsleben teilnehmen könnten«, so Kester. Aus diesem Gedanken etablierte das Haus am Kirschberg zunächst eigene Ausbildungsplätze, später kamen Kooperationen mit Vogelsberger Unternehmen hinzu.

Eine Druckerei, eine Maßschneiderei und eine Gärtnerei wurden betrieben, es gab Ausbildungsgänge in Verwaltung und Hauswirtschaft. »Wir waren in diesen Jahren anerkannter Ausbildungsbetrieb für bis zu dreißig junge Menschen«, resümiert Kester, »doch mit dem Wegfall der staatlichen Finanzierung dieses Angebots ab 2010 musste es eingestellt werden.«

Neben der Etablierung des Berufsbildungsbereichs wurde bald ein weiterer Bedarf deutlich: Viele der Frauen hatten mit sozialen, seelischen und familiären Problemen zu kämpfen. Für sie wurde Ende der Siebzigerjahre eine eigene Betreuungsgruppe gegründet, später eine weitere Gruppe mit therapeutischem Schwerpunkt. Hier wurden Mädchen und junge Frauen ohne Kinder bei jugendpsychiatrischen Problemen betreut. Dafür ging das Haus eine Kooperation mit der Universität Marburg ein.

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