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Hausärzte auf den Barrikaden

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Wut und Ärger sind bei den Haus-, Kinder- und Jugendärzten groß. Aus diesem Grund wollen sie am heutigen Mittwoch und am 30. November die Praxen geschlossen halten und demonstrieren. © DPA

Aus Protest gegen geplante Leistungskürzungen schließen zahlreiche Hausarzt- sowie Kinder- und Jugendarztpraxen am heutigen Mittwoch und am Mittwoch, 30. November. Zu den Protesttagen haben der Hausärzteverband Hessen und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte aufgerufen. Weitere Aktionen sind geplant. Wie sieht die Lage im Vogelsbergkreis aus?

Der Aufschrei ist groß: Es gehe um nicht weniger als die ambulante ärztliche Versorgung der Menschen, »wie wir sie kennen«, sagen Susanne Sommer und Jochen Müller vom Hausarztverband Vogelsbergkreis. Diese Versorgung werde es nicht mehr geben, »wenn die Sparpläne von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und der Krankenkassen wie geplant weiter umgesetzt werden«.

Seit vielen Jahren werde der ambulanten ärztlichen Versorgung eine adäquate inflationsbezogene Vergütungssteigerung verwehrt, »geschweige denn eine wertschätzende Anhebung des individuellen Arztlohnes angedacht«.

Dies betreffe die hausärztliche wie auch die fachärztliche Versorgung. Die für 2022-24 angedachten Honorarsteigerungen deckten nicht einmal die gestiegenen Personalkosten und den Hygieneaufwand zu Zeiten von Corona.

Der Anteil der ambulanten ärztlichen Versorgung an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung sinke kontinuierlich und betrage absolut weniger als die Ausgaben für die Arzneimittel im Jahr 2021, »für deren Verordnung wir noch mit dem Risiko eines Regresses bestraft werden«. Der Anteil der Ausgaben für den stationären Bereich steige dagegen weiter nahezu exponentiell an.

»Eine Steigerung unserer Umsätze ist nur durch ein immer schnelleres Rennen im Hamsterrad unter Durchschleusen von immer mehr Patientenzahlen, Überstunden und Einsatz unserer Gesundheit und der unserer Mitarbeiter in den Praxisteams möglich gewesen.« Schließlich könne man die Preise nicht den Steigerungen von Inflation und Leistung anpassen, wie es andere könnten. »Wir bekommen die Höhe unserer Vergütung de facto vonseiten der Krankenkassen diktiert.«

Das Hamsterrad mache müde und die geringe Wertschätzung ermüdete noch mehr. »Jetzt treffen uns die Preissteigerungen im Energiesektor und im Einkauf sowohl in den Praxen als auch im privaten Leben genauso wie jeden anderen Betrieb und Einwohner.«

Der ambulante Schutzwall, der insbesondere seit Beginn der Pandemie die Kliniken vor Überflutung geschützt habe, beginne zu bröckeln. Die letzten beiden Tropfen, die jetzt das Fass zum Überlaufen brachten, seien die Forderung des GKV-Spitzenverbandes, für die dann folgenden zwei Jahre eine Nullrunde für die ambulante Medizin zu verordnen und die Streichung der Neupatientenregelung.

»Wurde uns bisher, wenn wir Neupatienten aufgenommen haben, diese von den Krankenkassen voll vergütet, so wird diese Regelung aufgehoben (nachdem sie erst 2019 durch den jetzigen Bundesgesundheitsminister mit auf den Weg gebracht wurde). Das wird zu großen finanziellen Verlusten in den Praxen führen.« Neupatienten bedürften eines erheblich höheren Arbeitsaufwands.

Gerade im Vogelsbergkreis, wo es zu Praxisschließungen kommen werde, da viele Kollegen ihren Ruhestand erreicht haben. Dann stehe man vor dem Problem, dass sich viele Patienten einen neuen Hausarzt suchen müssen. Die Aufnahme neuer Patienten sei aber unter diesen Bedingungen für jeden Praxisinhaber genau zu überlegen. »Denn auch wir müssen wirtschaftlich arbeiten.« Hinzu komme, »dass wir bei Wegfall der Neupatientenregelung auch Termine bei Fachärzten wieder selber vereinbaren müssen«.

»Unsere Praxen werden zu Terminvermittlungsstellen degradiert.« Damit werde das Hamsterrad noch einmal beschleunigt. Darüber hinaus gebe es zunehmend fordernde, teils aggressive Patienten, deren Anspruchsdenken seitens Kassen, Politik und auch der Medien angefeuert werde. Und diejenigen, die, wenn es ihnen nicht schnell genug gehe, eine andere Versorgungsebene betreten und die Ressourcen von Rettungsdiensten und Kliniken/Notaufnahmen dann sehr häufig unnötig binden würden.

»Die Mitarbeiter und wir arbeiten aber wie alle anderen Kollegen schon seit über zwei Jahren über dem Limit und können nicht mehr leisten.« Neue und teure Strukturen seien nicht notwendig (Kontrollieren von Medikamentenplänen in Apotheken, Impfen in Apotheken, Gesundheitskiosk), sondern der Abbau zeitraubender Tätigkeiten, »die nichts bringen«.

Die Bürokratie nehme immer mehr Zeit in Anspruch, ein Beispiel sei die Corona-Impfung, bei der es für ein und dieselbe Tätigkeit 50 verschiedene Abrechnungsziffern gebe. Dann müsse tagesaktuell noch eine immer kompliziertere Meldung an das Robert-Koch-Institut erfolgen. Bürokratie binde die Ressourcen, und die fehlten bei der Versorgung der Patienten.

Viele Kollegen würden überlegen, ob und wie sie die nächsten Jahre in den Praxen noch gestalten können und wollen. »Patienten haben darüber hinaus zunehmend Schwierigkeiten, einen Hausarzt oder einen Kinderarzt im ländlichen Bereich zu finden. Nicht, weil wir uns auf dem Golfplatz rumdrücken. Nein, wir können einfach nicht mehr arbeiten als das, was wir jetzt leisten.«

Auch im Vogelsbergkreis werden am heutigen Mittwoch viele Praxen geschlossen sein. Ein Notdienst für »wirkliche Notfälle« ist organisiert, sichert der Hausarztverband zu.

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