»Es ist in Ordnung, wenn du anders bist«

Der 24-jährige Noah-Miguél Pinheiro da Cruz ist in Alsfeld bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen. Nach seinem Outing musste er sein bisheriges Leben zurücklassen und ist nach Frankfurt gezogen. Im Interview erzählt er von seiner Zeit bei den Zeugen, dem Outing und was ihn bewegt hat, bei der Sendung »G-A-Y: MR GAY GERMANY« teilzunehmen.
Eine Ihrer Aussagen, weshalb Sie bei MR GAY GERMANY teilgenommen haben, war: »das Leben zu leben, was ich schon immer wollte«. Was heißt das für Sie?
Noah-Miguél Pinheiro da Cruz: Das ist für mich ein sehr großes Thema, weil ich von Geburt an bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen bin. Und mein Leben lang in Alsfeld gelebt habe. Gewusst, dass ich irgendwie anders oder schwul bin, das war mit 13. Da habe ich gemerkt, da ist was, was nicht so ganz dahin gehört, dachte ich am Anfang. Als ich es gemerkt habe, habe ich alles versucht, um es nicht zu sein. Ich habe gekämpft. Ich habe mir Sachen angeguckt, die das untermauern, habe mich mehr mit Mädels beschäftigt, damit es nicht so auffällt. Ich habe mich auch anders gekleidet. Das war ein langer Prozess. Es gab Phasen, die sehr gut waren, in denen ich sehr gut damit klarkam, aber auch Phasen, in denen ich in ein Loch gefallen bin.
Phasen, wo Sie gut damit zurechtkamen, sich zu verstellen?
Genau. Dass ich gut mit klarkam, das Schwulsein nicht auszuleben, sondern bei der Religion zu bleiben. Ich weiß gar nicht mehr, wie das alles angefangen hat. Ich habe irgendwann gesagt, dass ich nicht heiraten möchte, weil der Gedanke, auch wenn ich eine Frau finden könnte und mit ihr gut auskäme, dass man dann heiratet, das fände ich ihr gegenüber unfair. Dass die Gefühle für Männer nicht mehr hochkommen, verspricht mir ja keiner. Dann bleibe ich lieber alleine und lebe mein Leben allein. So hatte ich mit dem Ganzen eigentlich abgeschlossen.
Wie kam es dazu, dass Sie sich doch geoutet haben?
2020 gab es unseren jährlichen Familienurlaub in Portugal. Da hat sich heimlich eine Sommerromanze entwickelt. Meine Eltern haben spekuliert und ich habe versucht, das zu verheimlichen. Die Kurzfassung: Wir kamen nach Hause und ich habe ihm geschrieben: »Such dir lieber jemanden bei dir. Mit mir wird das zu kompliziert. Ich bin Zeuge Jehovas.« Danach habe ich weitergemacht wie bisher. Doch Ende 2020 habe ich gedacht, »Noah, komm, versuch doch mal irgendwie, dir das einzugestehen, dass du so bist, und oute dich bei deinen Arbeitskollegen.« Ich habe alle zusammengerufen und habe gesagt: »Ich muss euch mal was erzählen, das liegt mir auf dem Herzen.« Ich konnte den Satz »Ich bin schwul« nicht sagen. Für mich war der ganz grausam. Dann habe ich nur gesagt: »Ich hab’ euch ja erzählt, dass ich niemals heiraten werde und dass ich allein bleibe. Das hat den Grund: weil ich keine Frau heiraten kann.« Meine Kollegen fingen an zu grinsen und sagten: »Ach, endlich, sagt er es«. Für sie war es schon lange klar. Für mich war es ein großer Schritt, dass ich wenigstens an der Arbeit so sein konnte, wie ich bin.
Und zu Hause?
Da ging alles so weiter, ich habe mich bei meiner Familie nicht geoutet, aber sie haben immer wieder was mitbekommen und geahnt. Auch damals mit 13 als ich zum ersten Mal einen Jungen geküsst habe, das haben sie mitbekommen. Das war eine Horror-Zeit. Mein Papa hat mich gefragt, ob ich irgendwie krank bin. Und dann fing das Versteckspiel an.
Wie sind Sie damals damit umgegangen?
Bei den Zeugen Jehovas haben wir Jugendbücher, in denen Fragen beantwortet werden, wie »Bin ich homosexuell?«, »Ich fühle mich zum gleichen Geschlecht hingezogen, was tue ich dagegen?«, »Woran liegt das?«. Da stand auch, das kann alles nur eine Phase sein. Und dann habe ich gedacht, gut, dann spielen wir das Spiel jetzt. Und habe es allen so verkauft, als wäre das eine Phase. Damit waren meine Eltern dann auch okay.
Wie kam es zum Austritt bei den Zeugen Jehovas?
Anfang 2021 saß ich bei einem der Meetings und dachte: »Noah, eigentlich lächelst du allen nur noch was vor. Jeder fragt dich, wie es dir geht, und du sagst immer, ja super, und lügst eigentlich jedem ins Gesicht.« Da habe ich zu meinen Eltern gesagt: »Ich fühle mich nicht mehr wohl. Ich kann nicht in die Versammlung gehen. Ich will das nicht mehr.«
Wie haben Ihre Eltern und die Zeugen Jehovas Ihre Entscheidung aufgenommen?
Meine Mama hat geweint, Papa auch. Mama hat dann gefragt: »Willst du jetzt kein Zeuge Jehovas mehr sein? Was willst du jetzt machen?« Dann kam sie jeden Abend zu mir und hat mich gefragt, wie es mir geht. Das Thema Homosexualität kam täglich auf. Sie wollte mir helfen, aber ich habe gesagt: »Mama, du kannst mir damit nicht helfen, ich muss damit leben.« Dann kam der Ältestenrat, um mit mir zu reden. Denen habe ich gesagt: »Ihr habt eine Frau, ihr habt Kinder, ihr könnt Sex haben. Mir wird das alles verboten. Mir wird immer gesagt, lenk dich gut ab, bete, lies in der Bibel, studiere viel. Aber ich kann mich nicht mein Leben lang ablenken, das geht doch nicht.« Sie haben gesagt: »Jehova sieht das anders, warte doch aufs Paradies.« Es klingt vielleicht blöd, aber ich habe keinen Bock mich im Paradies in eine Frau zu verlieben. Im Juni 2021 habe ich den Schlussstrich gezogen. Ich wollte kein Teil der Versammlung mehr sein. Dann wurde ich zu Hause rausgeschmissen.
Wie ist jetzt der Kontakt zu den Eltern?
Meine Eltern haben seitdem keinen Kontakt mehr zu mir. Und wollen auch keinen. Als Zeuge Jehovas darf man mit jemanden, der die Zeugen verlassen hat, keinen Kontakt mehr haben.
Wie ist es für Sie, keinen Kontakt mehr zum bisherigen Umfeld zu haben? Wie haben Sie weiter gemacht?
Der Anfang war schwer, weil man mit seinen ganzen Sachen da steht und nichts hat. Weil die ganzen Freunde auch bei den Zeugen waren und die auch keinen Kontakt mehr mit mir hatten. Man baut sich sein ganzes soziales Umfeld neu auf. Ich habe dann die Bewerbungsaufrufe von MR GAY GERMANY gesehen und ich habe gedacht: »Noah, sei stolz darauf, wer du bist, bewirb dich und mach mit.«
Wie war es für Sie, bei MR GAY GERMANY mitzumachen?
Es war ein super Erlebnis, elf andere Kandidaten, die auch schwul sind, kennenzulernen. Ich sage immer, schiebt Leute nicht in eine Schublade, aber unbewusst macht man es doch. Je mehr Zeit wir alle miteinander verbracht haben, desto mehr hat man den einzelnen Charakter lieben gelernt. Es gab verschiedene Challenges, die wir machen mussten. In der ersten Folge eine Sport-Challenge, später eine Social-Media-Challenge, eine Catwalk-Challenge mit der Make-up-Marke NYX. Dabei hat man verschiedene Facetten im Queersein durchlebt, und gemerkt, dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn du anders bist. Es ist vollkommen in Ordnung, wenn du bunt bist, wenn du präsent bist. Wir haben auch viel geweint und gelacht und private Geschichten von jedem einzelnen gehört, die einfach berühren. Und man merkt, es ist noch so viel zu tun.
Worum geht es in Ihrer Kampagne für MR GAY GERMANY?
Die Kampagne »Don’t live another life« ist für Leute, die sich in eine Form pressen lassen, in die sie nicht hineingehören, mit der ich sage: »Lebt euer Leben. Es gibt nichts Schöneres. Du wirst so glücklich sein.« Ich merke es ja an mir. Klar gibt es Tage, an denen es mir scheiße geht wegen meiner Familie, und mir manchmal alles zu viel wird, aber im Großen und Ganzen war es die beste Entscheidung meines Lebens. Ich würde rein gar nichts mehr daran ändern, echt.
Hat die Zeit bei MR GAY GERMANY bei Ihrem Neustart geholfen?
Ich habe durch Mr Gay Germany so viel gelernt. Ich traue mich jetzt viel mehr. Ich wollte mich immer schminken, habe es aber nie gemacht. Dann gab es die Challenge, wo man sich geschminkt hat und ich dachte: »Voll cool.« Ich habe so viel mitgenommen. Es war eine tolle Sendung und eine tolle Zeit. Ich bin richtig gespannt, wie sie ankommt. Und für die, die es gucken, die immer noch in der Bredouille stecken, hoffe ich, dass sie danach den Mut haben, und sich denken: »Hey, das habe ich gebraucht und ich gehe jetzt raus und will mein Leben leben, so wie ich das möchte.«
Wie hat Ihre Familie die Teilnahme bei MR GAY GERMANY aufgenommen?
Mein Bruder, der auch von den Zeugen ausgeschlossen ist, hat mich in der Woche vor Weihnachten angerufen. Er sagte: »Noah, wunder dich nicht, die Oma ist stinkesauer.« Bei unserem Telefonat hat sie gleich gesagt: »Noah, was machst du denn mit deiner Krankheit?« Und ich: »Was meinst du denn mit Krankheit?« Und sie: »Du bist ja kein normaler Mann.« Ich habe gesagt: »Dann habe ich meine Oma jetzt auch noch verloren«. Da hat sie gesagt: »Da bist du selbst dran schuld.« Und meine Oma ist nicht mal bei den Zeugen.
Aber ihr Bruder hält zu Ihnen?
Seit auch ich von den Zeugen ausgeschlossen bin, haben wir wieder Kontakt. Mein Bruder und ich sind von Grund auf verschieden, aber er unterstützt mich und sagt auch, er akzeptiert mich und er liebt mich. Wir hatten noch nie ein richtig enges Verhältnis, aber ich bin froh, dass ich ihn habe und ich liebe ihn auch.
Wie wollen Sie weitermachen?
Mein Ziel ist es, noch lauter und stolzer zu sein. Einfach, um ein Vorbild zu sein, für die Menschen da draußen, die in der gleichen Situation stecken. Ich kenne viele, die noch bei den Zeugen sind, die auch queer sind oder schwul, es aber nicht ausleben. Genau für die Menschen habe ich bei MR GAY GERMANY teilgenommen. Damit die das sehen und merken: »Hey, es ist alles richtig mit mir. Auch wenn du alles verlierst und komplett alleine da stehst, es lohnt sich. Beiß die Zähne zusammen, du bist nicht allein. Du hast eine viel größere und herzlichere Familie, als du sie bei den Zeugen haben wirst.« Da wurde immer gesagt, in der Welt findest du keine echten Freunde, das ist Quatsch. Die Freunde jetzt akzeptieren mich so, wie ich bin. Ich will für die Menschen da draußen nahbar sein. Weil ich weiß, dass man manchmal eine Umarmung braucht oder jemanden, der dir sagt: »Ich hab dich lieb«. Wie es weiter geht, weiß ich nicht. Aber egal was kommt, ich beiß die Zähne zusammen und mache weiter.