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»Ein schwerwiegender Eingriff«

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Von: Sebastian Schmidt

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Nicht alle Mitglieder des Ethikrats sind für die allgemeine Impfpflicht. Da die Stellungnahme aber so kurzfristig erbeten wurde, gab es keine Möglichkeit aufeinander zuzugehen, sagt das Gießener Mitglied des Gremiums, Steffen Augsberg. © Red

Die Politik diskutiert die allgemeine Impfpflicht in Deutschland, und der Ethikrat spricht seine Empfehlung dafür aus. Steffen Augsberg ist Professor für Öffentliches Recht, Mitglied des Ethikrates, und hat gegen den Entschluss des Gremiums gestimmt. Die Voraussetzungen für die Impfpflicht sind Augsberg zu unklar.

Herr Augsberg, es steht ein Vorwurf im Raum: Hat sich der Ethikrat nur auf Wunsch der Politik für die allgemeine Impfpflicht ausgesprochen?

In der Tat habe ich Zweifel, ob es sinnvoll war, so kurzfristig in ein laufendes Verfahren des politischen Betriebs eingebunden zu werden, bei dem die Präferenzen der Regierung bekannt sind. Damit erzeugt man fast zwangsläufig den Eindruck, lediglich deren Legitimationsbeschaffer zu sein. Nichtsdestotrotz wurde das Thema im Ethikrat kontrovers behandelt.

Sie und drei weitere Mitglieder haben gegen die Mehrheit des Rates und damit gegen die Impfpflicht gestimmt.

Ja. Das spiegelt auch die Meinungspluralität innerhalb der Gesellschaft bei diesem Thema wider. Von derzeit 24 Mitgliedern im Ethikrat haben 13 für eine Impfpflicht ab 18 Jahren gestimmt. Sieben Mitglieder empfehlen eine allgemeine Impfpflicht nur für Menschen, bei denen ein erhöhter Risikobezug besteht, zum Beispiel aufgrund des Alters. Drei Kollegen und ich halten die Voraussetzungen im Moment für insgesamt noch so unklar, dass uns eine pauschale Zustimmung derzeit nicht angängig erscheint.

Wurde das Ergebnis des Ethikrates also überstürzt getroffen?

Anfang Dezember hat die Bundesregierung uns um eine Einschätzung gebeten, am 22. Dezember wurde die Stellungnahme des Ethikrates veröffentlicht. Normalerweise haben wir mehr Zeit und versuchen, gerade bei kontroversen Themen, unsere Positionen aufeinander zuzubewegen. Das haben wir als Ethikrat diesmal nicht geschafft, deswegen konnten die drei Kollegen und ich den aus unserer Sicht zu undifferenzierten Entschluss letztlich nur ablehnen.

Dann haben Sie sich an die Öffentlichkeit gewandt.

Ja. Weil es sich um eine Ad-Hoc-Empfehlung handelt, gab es nicht die Möglichkeit, unsere Bedenken in einem Sondervotum zum Ausdruck zu bringen. Es war uns aber wichtig, klarzustellen, welche Bedenken wir haben und dass wir nicht prinzipiell gegen eine genau begründete Impfpflicht, erst recht nicht gegen Impfungen sind. Wir sind nicht die Querdenker des Ethikrates. Wir glauben jedoch, dass bei einem sensiblen Thema wie der Impfpflicht eine sorgfältige, kontext- und folgenorientierte Auseinandersetzung erforderlich und für die politische Debatte wichtig ist.

Was genau sind Ihre Bedenken?

Selbst wenn wir jetzt eine Impfpflicht beschließen, wird sie erst mit zeitlicher Verzögerung wirken. Aber welche Virusvariante wird dann vorherrschen? Welche Impfstoffe müssen sich die Menschen dann spritzen lassen? Und wie oft? Wie sind jetzt schon absehbare Umsetzungsprobleme zu bewältigen? Vor dem Hintergrund dieser Ungewissheiten kann man, meine ich, eine Impfpflicht Stand heute nicht pauschal empfehlen.

Da eine Impfpflicht stets eine Vorlaufzeit bräuchte, wären die Voraussetzungen nicht nur jetzt unklar, sondern auch in Zukunft.

Ja, jedenfalls in einer so dynamischen Pandemie. Das macht das Ganze auch so schwierig. Eine Impfpflicht bei Impfstoffen, die lange erprobt sind und eine sterile Immunität erzeugen, wäre etwas anderes. Aber eine Impfpflicht gegen ein ständig mutierendes Virus, bei dem auch die Impfstoffe angepasst werden müssen und neue knapp sind, sehe ich kritisch. Deshalb müsste die Politik viel offener kommunizieren, was sie konkret erreichen will und was man dafür aufs Spiel setzt. Sie müsste sagen: Das Risiko, das wir damit eingehen, ist es uns wert, weil andere Mittel nicht zur Verfügung stehen. Aber mit Blick auf Länder wie Portugal würde ich auch das im Moment bezweifeln.

Portugal hat eine Impfquote von 88,7 Prozent und trotz steigender Infektionszahlen sieht die Situation auf den Intensivstationen dort weniger angespannt aus.

Impfungen sind zweifellos sinnvoll. Es geht mir ja nicht darum, dass sich jemand nicht impfen lassen darf oder soll, sondern ob er es muss. Jedenfalls ist für Portugal die Pandemie trotz hoher Impfquote keineswegs vorbei, und das muss man in die Diskussion einbeziehen. Berücksichtigen sollte man auch, dass zum Beispiel das Risiko eines tödlichen Verlaufs bei 20-Jährigen äußerst gering ist. Fast alle Corona-Tote hatten Vorerkrankungen oder waren relativ alt. Die Jungen sind anerkanntermaßen nicht das Problem, sondern sollen nur miterfasst werden, weil damit angeblich die allgemeine Impfpflicht leichter zu akzeptieren und durchzusetzen sei.

Aber geimpft zu sein verringert laut RKI die Wahrscheinlichkeit, das Virus weiterzugeben. Und die Jüngeren sind doch auch Teil der Solidargemeinschaft.

Richtig ist aber auch, dass unter Delta- und erst recht unter Omikronbedingungen auch Geimpfte infektiös sind. Dass es Ausdruck von Solidarität ist, sich impfen zu lassen, würde ich dennoch unterschreiben. Aber geht die Solidarität so weit, dass man sie mit Zwang durchsetzen darf? Das funktioniert für mich nur, wenn wir eine Krise hätten, die wir anders nicht in den Griff bekämen. Denn eine Impfpflicht ist keine Banalität, sondern ein schwerer Eingriff in die körperliche Integrität und Selbstbestimmung.

Und Sie glauben, es gibt andere Möglichkeiten?

Die Impfpflicht hilft nicht aus der vierten oder fünften Welle. Sie wirkt erst zum Sommer hin, wenn die Zahlen ohnehin sinken. Sinnvolle Effekte könnte man erst im Herbst sehen. Aber bis dahin haben wir andere Optionen: Wo klappt die Impfkampagne bisher denn gut und wo nicht, was sind die Gründe? Was sind die Corona-Hotspots, und wie können wir sie verhindern? Wir machen nach zwei Jahren Pandemie immer noch die Rasenmähermethode: Möglichst alle gleichbehandeln, anstatt herauszufinden, wo genau die Probleme liegen. In diese Politik reiht sich die allgemeine Impfpflicht ein. Und sie bindet Aufmerksamkeit, die dringend auf akut erforderliche Maßnahmen - etwa Boosterimpfungen für gefährdete Personen - gerichtet werden müsste.

Italien ist jetzt gezielter vorgegangen und hat die Impfpflicht für über 50-Jährige eingeführt.

Das ist auf jeden Fall sinnvoller und auch leichter umzusetzen, als die gesamte Bevölkerung einzubeziehen und sie gegebenenfalls alle drei oder sechs Monate zwangszuimpfen. Letzteres schaffen wir auch mit unserer Impf-Infrastruktur nicht.

Ab März gilt die Impfpflicht für Pflegekräfte. Wie sehen Sie das?

Grundsätzlich halte ich das für viel besser nachvollziehbar als die allgemeine Impfpflicht. Wenn jemand professionell Verantwortung für besonders verletzliche Personen übernimmt, dann kann von ihm auch gefordert werden, sich zu deren Schutz impfen zu lassen. Aber man muss abwarten, ob das so funktioniert, wie sich die Politik das vorstellt. Das Pflegepersonal arbeitet ja schon am Anschlag, und wenn jetzt signifikante Teile davon verloren gehen, dann haben wir damit vermutlich mehr Probleme verursacht als gelöst. Das hätte vorher geklärt werden müssen. Aber es ist bezeichnend für die Corona-Politik, dass das Problem zu spät gesehen wird und dann aus der Angst heraus, dass Pflegekräfte den Beruf verlassen, die allgemeine Impfpflicht gefordert wird. Da wird eine schlampige Gesetzgebung durch die nächste ersetzt.

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