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Ein Jahr nach dem Undenkbaren

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Pavlo Rozbytskyi vor dem Rathaus. Hier hat er vor einem Jahr eine beeindruckende Rede gehalten. © SCHEPP

Am 5. März 2022 hat Pavlo Rozbytskyi vor dem Gießener Rathaus eine eindrucksvolle Rede über den russischen Angriff auf die Ukraine gehalten. Auch ein Jahr später fordert er Waffenlieferungen.

Pavlo Rozbytskyi hat seine Hände tief in den Taschen seines Parkas vergraben. Es ist kalt an diesem Morgen auf dem Berliner Platz. Ähnlich kalt war es am 5. März 2022, dem zehnten Tag der russischen Invasion auf die Ukraine. Damals hatten sich 800 Menschen vor dem Rathaus versammelt und gegen den Krieg protestiert. Rozbytskyi stand auf der Bühne und hielt eine Rede, die einigen Teilnehmern Tränen in die Augen trieb. »Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich einmal auf einer Bühne stehen werde und zu so vielen Menschen spreche«, sagt der 25-Jährige, der sich als eher introvertierten Typen bezeichnet. Durch den russischen Angriff sei er aber von dem ein oder anderen Tag in einer anderen Welt aufgewacht. Einer Welt, in der sein Vater mit dem Maschinengewehr in seiner Heimatstadt Kiew patroullieren musste, während seine Mutter zu Hause mit Pistole und Handgranate Schutz suchte. »Ich habe mir natürlich große Sorgen um die beiden gemacht«, sagt Rozbytskyi.

Am heutigen Freitag jährt sich der Krieg in der Ukraine zum ersten Mal. Am 21. Februar 2022 erkannte der russische Präsident Wladimir Putin die beiden zum Staatsgebiet der Ukraine gehörenden Gebiete Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten an. Am Folgetag verhängten USA, EU und Verbündete Strafmaßnahmen gegen Russland. Deutschland legte unter anderem die Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 auf Eis. Am 24. Februar begann die russische Armee dann einen flächendeckenden Angriff auf die Ukraine. Deren Präsident Wolodymyr Selenskyj rief daraufhin den Kriegszustand aus und ordnete die allgemeine Mobilmachung an.

Das betraf auch die Familie von Rozbytskyi. »Mein Vater war früher Polizist. Er wurde sofort einberufen, was er auch wollte.« In der Folge habe sein Vater in Kiew patroulliert und auch an Kriegseinsätzen teilgenommen, etwa in Butscha. Der Vorort von Kiew erlangte durch das von Russen verübte Massaker traurige Berühmtheit. »Auf meinen Vater wurde geschossen, er musste auch schießen«, sagt Rozbytskyi.

Während der Vater gegen die Russen kämpfte und die Mutter sich zu Hause verbarrikadierte, wuchsen die Sorgen des Sohnes im entfernten Gießen ins Unermessliche. »Ich konnte nicht arbeiten, ich konnte nicht studieren, ich habe immer nur auf das Handy geschaut.« Rozbytskyi verfolgte Apps, die über aufsteigende russische Flugzeuge informierten, und hoffte inständig, dass seine Eltern, aber auch möglichst viele andere Ukrainer von den Angriffen verschont blieben.

Wie viele Menschen durch den Krieg in der Ukraine bisher ihr Leben verloren haben, ist unklar. Die Zahlen gehen je nach Quelle weit auseinander. Laut dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hat der russische Angriffskrieg bis zum 12. Februar 2023 mindestens 7199 Todesopfer alleine in der ukrainischen Zivilbevölkerung gefordert. Rozbytskyi Eltern waren nicht darunter.

Forderung nach weiteren Waffen

»Sie sind inzwischen beide in Gießen«, sagt der Sohn. Seine Mutter, vom Beruf Lehrerin, absolviere gerade Deutschkurse, um im Anschluss unterrichten zu dürfen. »Sie ist bereits seit rund sieben Monaten hier.« Sein Vater hingegen sei erst vor einigen Wochen in Gießen angekommen, und das auch nur, weil er sich einer Operation habe unterziehen müssen. Ob er nach der Genesung zurück an die Front gehen wird? »Das weiß ich nicht«, sagt Rozbytskyi. »Aber er ist kein Feigling. Wenn er sich etwas in den Kopf setzt, macht er das auch.«

Rozbytskyi lebt seit fast sieben Jahren in Gießen, er ist damals zum Studieren nach Deutschland gekommen. Heute ist er verheiratet mit Polina, deren Eltern aus Russland stammen. »Sie nimmt den Krieg genauso wahr wie ich. Sie geht zu Protesten und organisiert Demonstrationen.« Polina und Pavlo engagieren sich in Gießen auch in der Integrationsarbeit, beide sind zuletzt auch in den Kreisausländerbeirat gewählt worden. »Ich will helfen, dass Integration von Migranten gelingt, sie nicht ausgeschlossen werden und sie sich hier wie zu Hause fühlen«, sagt der 25-Jährige.

Rozbytskyi und seiner Ehefrau geht es in Gießen gut, die Eltern sind in Sicherheit. Seine Forderung aus der Rede kurz nach Kriegsbeginn, wonach der Westen dringend Waffen an die Ukraine liefern müsse, erfüllt sich ebenfalls, wenn auch mit Verspätung. Von einem Happy End kann angesichts täglich neuer Tote aber nicht die Rede sein. »Ich bin kein Kriegsexperte. Aber meiner Meinung nach können nur weitere Waffenlieferungen Putin stoppen. Wenn das nicht gelingt, wird er auch vor anderen Ländern nicht halt machen.«

Rozbytskyi sieht daher auch in der Lieferung von Kampfjets und Kriegsschiffen ein probates Mittel. »Auch wenn es paradox klingt: Wenn diese Waffen nicht geliefert werden, sterben noch mehr Menschen.« Im Gegenzug glaubt der 25-Jährige daran, dass die Bereitstellung von Jets und Schiffen den Kriegsverlauf verändern wird. »Ich bin der festen Überzeugung, dass die Ukraine gewinnt, wenn man ihr die richtigen Waffen gibt.«

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