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Die Erinnerung lebt

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Von: Joachim Legatis

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Seine Vorfahren stammen aus Kirtorf und mussten 1937 vor der Verfolgung in die USA flüchten. Nun besuchte Ken W. Hasson die Heimat seiner Großmutter Recha Gottlieb und freute sich über die freundliche Aufnahme durch Aktive des Heimatvereins.

Diese Gäste interessierten sich besonders für den Friedhof. Dort fand Ken W. Hasson Grabsteine, die an Vorfahren erinnern, die Jahrhunderte in Kirtorf gelebt haben. Bis zu 1751 lässt sich die Familie Gottlieb zurückverfolgen, wie Helmut Meß und Uwe Wittich vom Heimatverein berichteten. Hasson und seine Ehefrau Lourdes waren beeindruckt von den Orten der Erinnerung an die Vorfahren. Seine Mutter Margot musste 1937 nach New York flüchten, doch die deutsche Kultur spielte in der Familie eine große Rolle, wie Hasson sagt. Gleichzeitig gibt es auch bedrückende Gedanken an einen Familienangehörigen, der im Holocaust ermordet wurde.

So herrschten gemischte Emotionen beim Kurzbesuch in Kirtorf. »Ich bin sehr froh, hier zu sein«, meinte Hasson nachdenklich. In seiner Familie wurde nicht über Deutschland und die Vergangenheit gesprochen, »Wir konzentrierten uns auf das aktuelle Leben, sprachen über die Arbeit und die Zukunft.« Dennoch war er schnell bereit, die Heimat der Vorfahren zu besuchen, als sich nun die Gelegenheit bot.

Auslöser war der Anruf seiner Cousine Bobbi Harris, die im vergangenen Jahr auf den Spuren der Familiengeschichte in Düdelsheim und Kirtorf zu Besuch war. Erst von ihr hat Hasson erfahren, dass einige Vorfahren aus der Vogelsberger Kleinstadt stammen. Seine Mutter hatte nur von Düdelsheim erzählt. Seine Großmutter Recha Gottlieb hatte einst Martin Wolf aus Düdelsheim geheiratet, deshalb war ihm der Ort in der Wetterau ein Begriff. Von dort war das Paar mit den Töchtern Margot und Greta nach New York geflüchtet.

So war Hasson froh, als ihm Meß und Wittich das Haus der Urgroßeltern an der Neustädter Straße zeigen konnten. Weitere Stationen des Besuchs waren das Heimatmuseum mit seinen vielen Informationen und der jüdische Friedhof mit mehreren Grabstätten der Familie Gottlieb. Den Ort Düdelsheim erkundete das Paar beim Deutschland-Trip ebenfalls.

Sassons Mutter erging es im Dritten Reich wie vielen Juden. Erst als sie mit blutverschmiertem Kopf vom Markt nach Hause gekommen war, hatte ihr Vater begriffen, dass man die Flucht ergreifen musste. Er hatte sich lange dem Drängen seiner Frau verweigert, die keine Lebensmöglichkeit mehr in Deutschland gesehen hatte. Die Kopfwunde hatte sich Margot geholt, als sie von Jugendlichen mit Steinen beworfen wurde. Die Großeltern betrieben ein Geschäft für Haushaltswaren und eine Schneiderei.

Wie sich Hasson weiter erinnert, verkaufte man das Haus unter Druck, bestach Sachbearbeiter in Behörden und konnte so 1937 nach New York fliehen. »Aus den beiden Familien meiner Eltern verließen alle Deutschland, nur ein Familienmitglied kam ins Konzentrationslager und wurde getötet.« Sein Großvater arbeitete in den USA als Kellner, die Großmutter fand einen Job als Sekretärin bei Pfadfinderinnen. Seine Mutter war Biologin, der Vater Arzt.

Aufgewachsen ist Hasson mit »einer gewissen Nähe zu Deutschland«. So gab es zu Hause viel deutsches Essen. Im New Yorker Viertel Washington Heights lebten viele Juden mit deutschen Wurzeln. Hasson erinnert sich an eine koschere Metzgerei mit Würsten nach deutscher Rezeptur.

In der Familie spielte Religion keine Rolle, erzählt Hasson: »Meine Mutter wollte das Geschehen von uns fernhalten, das zur Vertreibung geführt hat.« Im Alltag befolgte er die jüdischen Vorschriften kaum, sagt Hasson, der für die Hilfsorganisation USAID in Bangladesh arbeitet.

Dennoch erfuhr er auch in den Staaten bei einigen Ablehnung. »Auch in den USA gibt es Ressentiments und Antisemitismus.« In der Schule haben Jugendliche Steine nach ihm geworfen und ihn als Juden beschimpft. Als er später in einem Park arbeitete, empörte sich ein Kollege, dass Juden nichts arbeiten würden. Als er hörte, dass Hasson selbst der Religionsgemeinschaft angehört, entschuldigte er sich.

Seine Mutter sprach Deutsch, wie er sich weiter erinnert. Bei einem längeren Aufenthalt in Israel bemerkte er, dass Überlebende des Holocaust »es nicht ertragen, wenn in ihrer Umgebung Deutsch gesprochen wird.« Er selbst hat keine Berührungsängste und freute sich außerordentlich über die Art, mit der er in Kirtorf empfangen und von Meß und Wittich herumgeführt wurde. Denn:

»Nicht überall sind die Menschen freundlich gegenüber Amerikanern.«

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