Geschichtsstunde besonderer Art

Alsfeld (pm). »Bevor wir über tote Juden sprechen, sollten wir über lebende Juden sprechen«, so begann die New Yorkerin Nancy Freund Heller ihr Gespräch mit drei Gruppen von insgesamt 75 Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufen 12 der Max-Eyth-Schule und der Albert-Schweitzer-Schule in Alsfeld. Als Nachfahrin einer deutsch-jüdischen Familie, die vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten mehr als 300 Jahre lang in Alsfeld und Umgebung lebte, setzt sie sich seit über 20 Jahren intensiv mit der Familiengeschichte auseinander.
Als Botschafterin für Freundschaft und Versöhnung möchte sie diese Geschichte für junge Menschen in der Heimat ihrer Familie lebendig werden lassen und tut dies mit viel Leidenschaft und Empathie. Anfang diesen Jahres nahm sie mit der MES Alsfeld Kontakt auf und so bot sich den Schülerinnen und Schülern die einmalige Gelegenheit, einen Aspekt des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte aus erster Hand zu erfahren.
»Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann tut’s noch mal so gut«, diese und andere Hetzlieder und Parolen skandierten seit dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten viele Deutsche in Alsfeld. Die Warnung eines Mitarbeiters bewog den Alsfelder Kleidungsfabrikanten Adolf Steinberger, in einer Nacht- und Nebelaktion nach nur acht Monaten nationalsozialistischer Herrschaft mitsamt Familie der geliebten Heimat den Rücken zu kehren. Seinen Töchtern, darunter die 13-jährige Irmgard, Nancys Mutter, sagte er bei der Abreise: »Schaut euch noch einmal um, denn ihr werdet Alsfeld nie wiedersehen.«
Jüdische Mitarbeiter aus Alsfeld geholt
Obwohl sich dies für Irmgard nicht bewahrheiten sollte, so verlor sie doch ihre Heimat. Zunächst wanderte die Familie nach Haifa in Palästina aus, damals unter britischer Kontrolle und ein Entwicklungsland, eine ganz andere Welt als die vertraute deutsche Heimat. Sich dort eine Existenz aufzubauen, gestaltete sich äußerst schwierig. Unter größtem Aufwand schaffte es Steinberger, alle jüdischen Mitarbeiter der Alsfelder Kleiderfabrik aus Deutschland herauszuholen.
Doch nicht alle Familienmitglieder schafften die rechtzeitige Flucht vor dem NS-Terror. Therese Strauss, geborene Steinberger und ihr Mann Markus Strauss wurden, mit unzähligen anderen, ins Konzentrationslager Lodz deportiert und ermordet. Vor ihrem Haus in der Grünberger Straße wurden zum Gedenken Stolpersteine verlegt. Irmgard Steinberger wanderte über einen Umweg über die Schweiz, wo sie Fotografie studierte, letztendlich in die USA aus. Dort wurde aus Irmgard, die sich in Haifa Yehudit nannte, Judith oder kurz Judy.
Obwohl Deutsch zu sprechen im New York der Kriegs- und Nachkriegszeit verpönt war, wuchsen Judiths Kinder »in einem typisch deutschen Haushalt« auf, wie ihre Tochter Nancy betont - »das Essen, die Einrichtung, alles war deutsch«. Judith blieb ihrer Alsfelder Heimat stets verbunden. Dies ist keine Selbstverständlichkeit, da das Trauma von Entrechtung, Verfolgung und Ermordung ganze Generationen traumatisiert hat.
Judith besuchte Alsfeld regelmäßig und pflegte stets den Kontakt mit jener Familie, deren Vorfahre, ein Mitarbeiter der Kleiderfabrik, Adolf Steinberger 1933 vor einem möglichen Anschlag warnte und der Familie damit das Leben rettete.
Schüler danken für Mut zum Sprechen
Kurz vor ihrem Tod im Jahr 2010 rezitierte Judith noch Heinrich Heines Loreley, ihr letztes Wort war »Abschied«. Dies bewog Nancy vor sechs Jahren dazu, die Sprache ihrer deutschen Vorfahren zu erlernen, sodass sie mit den Schülerinnen und Schülern auf Deutsch und Englisch sprechen konnte. Dank Nancys Engagements konnten diese aus erster Hand die Geschichte von Hetze, Entrechtung und Vertreibung erfahren.
Sie eröterten gemeinsam, was nachfolgende Generationen daraus lernen können und müssen - vor allem in Zeiten, in denen Antisemitismus und rassistische Tendenzen wieder erstarken. »Ihr und ich, wir müssen dafür sorgen, dass so etwas niemals wieder passiert«, appellierte sie an die gespannten Zuhörerinnen und Zuhörer. Gleichzeitig betonte sie, wie wichtig Vielfalt und Respekt in einer modernen Gesellschaft seien.
Zum Abschluss gab Nancys Mann Jeffrey, ein Anwalt für Asylrecht, Einblick in seine beeindruckenden karitativen Aktivitäten und sprach über die Chancen, die Diversität und Offenheit einer Gesellschaft bieten. Die Schülerinnen und Schüler waren beeindruckt und bewegt.
Ein Schüler sagte, dass die persönliche Geschichte in Verbindung mit der eigenen Heimatstadt den Schmerz der Vertreibung und das Trauma, das über Generationen hinweg weitergegeben wurde, erlebbar machten. Eine Schülerin sagte, »auch wenn wir nicht schuld sind, so möchten wir doch Entschuldigung sagen«. Einige bedankten sich für den Mut, den Nancy aufbringt, um diese sehr persönliche und schmerzliche Geschichte zu teilen. »Diese Geschichtsstunde wird den Schülerinnen und Schülerin in Erinnerung bleiben«, da ist sich Geschichtslehrerin Sarah Schäfer sicher. Sie steht mit Nancy Freund Heller in regem Kontakt, der Besuch im nächsten Jahr ist bereits ins Auge gefasst.
Das Zeitzeugen-Gespräch ist Teil eines lebendigen, praxisorientierten Unterrichts, wie es in der Bilanz der MES heißt. Wer noch nicht schlüssig ist, welchen schulischen oder beruflichen Weg er nach der Mittelstufe einschlagen möchte: Anmeldungen für das berufliche Gymnasium an der Max-Eyth-Schule für das kommende Schuljahr sind noch möglich.
