Dem Mythos ganz nah

Alsfeld-Lingelbach (bul). Der wilde, wilde Westen fängt gleich hinter Alsfeld an: Erst vor zwei Wochen überzeugten sich die bekannten singenden Cowboys der Gruppe Truck Stop aus dem Süden Hamburgs von der hautnah erlebbaren Konzertfähigkeit im Fort Rattlesnake in »Lingelcreek«. Am Wochenende lud der ansässige Westernverein Hot-Spurs-Lingelcreek bereits zum 17.
Mal in Alsfelds Stadtteil Lingelbach in seine abenteuerliche Westernstadt zum ausgelassenen Countryfest mit Festbetrieb und Apachen-Stuntshow. Nach zwei wild-west-dürren Jahren tauchten viele Menschen aus Nah und Fern von Freitag an mit Begeisterung ein in die Welt des ur-amerikanischen Mythos der Cowboys und Indianer.
Schon am ersten Abend, viel mehr noch am Samstag, herrschte in der Westernstadt der Vereinsaktiven um Stefan Quehl reges Treiben: Old-Styler flanierten genüsslich mit den Damen ihres Herzens die »Mainstreet« entlang. Andere tranken in aller Ruhe im und auf der Veranda vor dem Saloon oder im Fort Rattlesnake ihr Feuerwasser oder Kaffee, derweil ihre tanzwütigen Gefährten nach Lust und Laune auf heißen Sohlen ein Tänzchen wagten. Heldenhafte Cowboys mit blitzenden Sporen und rauchenden Colts behielten mit Vorliebe die Bank, das Office des Sheriffs, vor allem aber das Steakhouse im Auge, wenn sich zu den Hauptessenszeiten ein knurrendes Gefühl von Hunger bemerkbar machte. Trapper lockten mit Fuchsfell und allerlei Geschichten zu einem gemütlichen Plausch. Familienväter wie Daniel Reitze schürften mit ihren Kindern in der Goldmine »Shelly-See« nach Gold.
Besucher von weither
»Wir haben schon zwölf Goldstücke«, freute sich Reitzes siebenjähriger Sohn Lennart über den spontanen Reichtum, derweil sein Papa und Oma Bruni noch immer ihr Glück beim Goldwaschen herausforderten. Eigens aus Steffenberg im Landkreis Marburg-Biedenkopf kam das Trio angefahren, um in »Lingelcreek« einen rundum schönen Tag zu erleben.
Dem Westernfeeling verfallen war auch Richard Gareis aus Stockhausen. Schon seit Kindheit faszinierten Filmhelden wie Jesse James und Billy the Kid den Wahl-Vogelsberger mit bayerischen Wurzeln dermaßen, dass sich der einst gelernte Restaurator sehr intensiv mit der Geschichte des Wilden Westens etwa zwischen den 1840er Jahren und 1890 auseinandersetzte, die wiederum untrennbar verbunden sei mit dem Weg der USA zum modernen Staat der heutigen Zeit, so seine Erkenntnis.
»Der Wilde Westen war schon damals eine moderne, aufgeschlossene Gesellschaft gegenüber Frauen: Sie konnten im Beruf als Lehrerin aus dem biederen und konservativen Amerika ausbrechen. Noch dazu bestand für die einstigen Revolverhelden ein ungeschriebenes Gesetz, dass weder Frauen noch Kindern mit Gewalt begegnet wurde«, machte der Nostalgiker infolge der jüngst erschütternden, schlagzeilenträchtigen Amoktaten kein Geheimnis aus seiner Ablehnung gegen die Zustände in der heutigen Bevölkerung. Getreu des Mottos »kleine Leute spielen gerne, größere viel lieber« schlüpfte der Stockhäuser old-school-like mit Westernhose, Kragenhemd, Gehrock und Hut in den klassischen Look des 19. Jahrhunderts und erklärte sich für fotografische Erinnerungen mit manchem Festbesucher bereit.
Als Kind habe sie immer Gojko Mitic, den Winnetou des Ostens, heiraten wollen, gesteht Conny Schladitz. Weil dieser Wunsch aber nicht in Erfüllung ging, sattelte die Assistentin von Oberhäuptling Wolfgang Kring aus Neu Damerow an der Mecklenburgischen Seenplatte vor vielen Jahren um und wurde dessen langjährige, mutige Assistentin zur Apachen-Stuntshow. Immer wieder gerne in Lingelbach, war das Duo auch diese Mal wieder ein Garant für Spannung und Nervenkitzel pur bei seiner berittenen Feuershow, einem gewagten Bananenschnitt mit dem Säbel und Ringtausch mit dem Speer. »Die Veranstalter sind außerordentlich freundlich und nett, noch immer sehr familiär, menschlich und zugänglich unterwegs. Da nehmen wir gerne die 600 Kilometer Anfahrtsweg für eine Strecke in Kauf. Das passt einfach«, gab Kring den Veranstaltern kurzum ein gutes Zeugnis.
Geselliges Miteinander
In der Tat schien die Westernstadt trotz ihrer fortwährenden Menschenfülle im Kommen und Gehen friedlich. Unangenehme Störenfriede mit rauchenden Colts waren nicht zu erkennen, ganz im Gegenteil. Nach zwei Jahren Corona-Pause schien bei allen Beteiligten die Freude zu einem Fest mit Cowboy und Indianerspiel sehr groß. »Das Wetter und die Atmosphäre sind doch herrlich«, nahm sich auch Stefan Quehl als Bürgermeister von »Lingelcreek« einen Augenblick Zeit. »Die letzte Kugel wurde Gott sei Dank durch die Pandemie nicht verschossen.« Viele Freizeitcowboys reisten schon am Donnerstag mit ihrem Camper oder Wohnwagen an, freute sich Quehl.
Musikalisch abgerundet wurde das Programm mit amerikanischen und schottischen Bagpipe-Melodien von Whiskeypiper sowie mit soundstarker Hillbilly- und Countrymusik der Bands Musik Road Pilots, Louisiana on Tour und Gone Country, wobei gar mancher Tanzbär erst zur späteren Stunde die Tanzfläche mit qualmenden Socken verließ. Wer dennoch ausreichend Luft brauchte, bediente sich einfach eines Fleckchens außerhalb der Dance Halls. Auch das war auf der riesigen Geländefläche sicherlich ebenso kein Problem wie der Hauch von Lagerfeuerromantik vor dem Totempfahl unter dem Sternenzelt des Himmels.