Blutspur nach London und Stolpersteine

Alsfeld (bul). Sein neustes Werk ist vollbracht: Gunter Demnig ist ein international bekannter Künstler, noch dazu der Erfinder der »Stolpersteine« zur Erinnerung an die Opfer der Verfolgung in Zeiten des Nationalsozialismus. Seit Anfang der 1990er Jahre hat der Aktionskünstler bereits in knapp 30 Ländern in Europa und im globalen Ausland mit der Verlegung von 95 000 dieser Gedenksteine geschichtsträchtige Spuren hinterlegt.
An Aufhören sei nicht zu denken, sagt der fast 75-Jährige am Wochenende mit Überzeugungskraft.
Vor wenigen Jahren wurde er in Alsfeld-Elbenrod heimisch und setzt dort sein künstlerisches Schaffen mit dem Ausbau einer Dauerausstellung fort. Am Samstag war die feierliche Eröffnung mit Gästen aus der Kreis- und Stadtpolitik, Kunst- und Kulturbereich sowie der Gesellschaft. Erstmals bekamen etwa drei Dutzend Besucher einen Einblick in das Wirken des gebürtigen Berliners.
Ein ehemaliger Bauernhof, Ideenreichtum, handwerkliches Knowhow und das Händchen für Gestaltung und Gastlichkeit von Demnigs Ehefrau Katja machten die Vernissage zu einer rundum gelungenen Premiere der ausgefallenen Museumkultur. Die Ausstellungsräume sind auf mehrere Ebenen mit etwa 350 Quadratmetern verteilt.
Wer Gunter Demnig als Künstler mit Farben, Pinsel, Leinwand, Staffelei und ausgefeilte Maltechniken in Verbindung bringt, irrt sich gewaltig: »Seine Kunst war und ist Gesellschaftskritik und politische Provokation von Anfang an«, brachte nach der Begrüßung durch Katja Demnig der Kasseler Architekt Klaus Brocke als langjähriger Weggefährte das Kunsthandwerk Demnigs auf den Punkt. Beispiele vieler provokanter Arbeiten im Laufe eines halben Jahrhunderts: Schon während seines Studiums in Protest den 1968ern an der Berliner Hochschule für bildende Kunst präsentierte der Student eine US-Flagge mit Totenköpfen anstelle der Sterne als Widerstand gegen den Vietnamkrieg. Das hatte Folgen - Demnig wurde polizeilich abgeführt. Otto Schily holte ihn aus dem Gewahrsam heraus. »Das würde er heute wohl nicht mehr tun«, merkte der Künstler lächelnd an.
Mittels selbstgebauter »mobiler Maschinen« hinterließ Demnig vielerorts mit Kreide oder Farbe seine Spuren, um gedankenanregende Verbindungen zu schaffen von seiner zwischenzeitlichen Wirkungsstätte Kassel zu seinen gesteckten Zielen. Eine Steigerung der Mittel war zweifelsohne mit einer Blutspur nach London erreicht.
Spur von deportierten Sinti und Roma
Anfang der 1980er zog Demnig mit einer Wanderung vom Fridericianum in Kassel über die Alpen zur Biennale nach Venedig einen roten Faden, und erlangte dafür den Eintrag ins Guiness Buch der Rekorde für das längste Kunstwerk der Welt. Wohlüberlegt zog er einen Kreidekreis rund um Wuppertal, um darzulegen, in welchem Radius eine Atombombe wirkt.
Es folgte Demnigs Umzug nach Köln, die kreative Ader ging weiter: Demnig »meißelte« Friedensverträge der menschlichen Geschichte in Blei und brannte Menschenrechtsdeklarationen in Lautschrift auf Tontafeln. Er stellte Kunstautomaten mit Geldschlitz her, die wie bei Spielautomaten die Assoziation zu menschlichen Zügen und Abgründen aufweisen. »Sie klopfen einem Mal auf die Schulter, und haben auf der anderen Seite keine Scheu, ›drauf zu schlagen oder zu treten.«
Zur Sprache kam ebenso eine Spur quer durch Köln zur Verladerampe des Deutzer Bahnhofs - zur Erinnerung an die Deportation von Tausend Sinti und Roma, die im Mai 1940 von einem in der Kölner Messe eingerichteten Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald weggebracht und getötet wurden, gaben Demnigs Aufzeichnungen her.
Nur wenige Jahre später erfolgte die Geburtsstunde der »Stolpersteine« gegen das Vergessen aller Holocaust-Opfer. Die Steinplatten mit den Namen in Messinglettern seien mittlerweile in vielen europäischen Kommunen auf den Gehwegen zu finden. Jeder einzelne Stein stehe für ein grausames Schicksal, machten der Laudator, aber auch der Künstler in ihren Ansprachen sehr deutlich.
Alsfelds Bürgermeister Stephan Paule zollte dem Künstler Gunter Demnig großen Respekt für dessen Idee, seit Jahrzehnten bereits Stolper(Gedenk)Steine zu verlegen. Über sie stolpert man nicht physisch, sondern mit den Augen durch das Erfassen und Realisieren der darauf verewigten Namen und ihrer grausam-ausgelöschten Lebensgeschichte.
Im Anschluss bekamen die Gäste viel Raum und Gelegenheit, Gehörtes in der Ausstellung als aus eigener Perspektive wahrzunehmen und zu verinnerlichen. Dabei zeigte ihnen ein Mitarbeiter Demnigs die handwerkliche Erstellung von Stolpersteinen.
Ab September 2022 werden die Ausstellungsräume mehrmals im Jahr für Interessierte geöffnet. Die Termine hierfür werden vier Wochen vorher auf der Homepage www. stolpersteine.eu veröffentlicht. Gunter und Katja Demnig bitten jedoch um vorherige Anmeldung zwecks besserer Planung der Besucherzahl.