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Als Deutsche nach Gießen flüchteten

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Das alte Pförtnerhaus im Meisenbornweg ist aktuell eines der wenigen Überbleibsel der ehemaligen Notaufnahmeeinrichtung für geflohene DDR-Bürger. In drei Podcasts haben JLU-Studierende der Geschichts- und Kulturwissenschaften an diesen historischen Ort erinnert, der irgendwann 2024 zur Gedenkstätte umgebaut sein wird. © ZY

JLU-Studierende haben das ehemalige Notaufnahmelager für DDR-Bürger im Meisenbornweg untersucht und aus ihren Ergebnissen drei Podcasts erstellt. Darüber sprachen sie mit der SED-Opferbeauftragten Evelyn Zupke - ehemalige Oppositionelle in der DDR - sowie mit der Geflüchteten Beatrix Tittmann, die in einem der Podcasts eine emotionale Rückkehr in das Gießener Lager beschreibt.

Während in der Rödgener Straße noch eine junge Geschichte über die Flucht von Menschen vor Krieg und Unterdrückung zu erzählen ist, lässt sich im Meisenbornweg natürlich auch einiges über die Flucht von Menschen lernen, die dem DDR-Regime den Rücken kehrten. JLU-Studierende der Geschichts- und Kulturwissenschaften haben diese Geschichte des einstigen Notaufnahmelagers nun unter die Lupe genommen und daraus drei Podcasts produziert. Das geschah im Zuge ihres Seminars »Ein Tor zur Demokratie? Der Gedenkort Meisenbornweg« unter der Leitung von Professorin Hannah Ahlheim. Das Gelände im Meisenbornweg wurde nach dem Zweiten Weltkrieg (ab 1946) zunächst provisorisch als Flüchtlings- und Ende 1946 als Regierungsdurchgangslager genutzt, um den Zuzug von Deutschen nach Hessen zu koordinieren.

Nach dem Mauerbau wurde es 1963 zum zentralen Bundesnotaufnahmelager für Geflüchtete aus der DDR. 900 000 Menschen fanden dort bis zur Deutschen Wiedervereinigung eine Zuflucht. Für die Vorstellung der Audiobeiträge der Studierenden war die SED-Opferbeauftragte des Deutschen Bundestages, Evelyn Zupke, die sich in der DDR in einer oppositionellen Gruppe, dem »Weißenseer Friedenkreis« engagierte, im Seminar zu Gast. Der Meisenbornweg habe nicht bloß eine lokale Bedeutung als Gedenk-ort, sondern für ganz Deutschland. Für DDR-Bürger sei Gießen ein prominenter und begehrter Ort gewesen, der für Freiheit stand. Noch heute leiden ehemalige DDR-Bürger unter ihrer Unterdrückung, daher sei auch 34 Jahre nach dem Mauerfall ihr Amt noch so wichtig.

Im Seminar war auch Beatrix Tittmann zu Gast, die am 19. August 1987 mit 20 Jahren am Gießener Bahnhof ankam. Sie verließ ihre Heimat, Freunde und Familie im Erzgebirge. Bevor sie bei ihrer Tante aufgenommen werden konnte, musste sie sich im Meisenbornweg registrieren lassen und dort drei Tage verbringen.

In einem der Podcasts besuchte sie mit den Studierenden Johanna Honig, Timm Albrecht und Annika Wagner das ehemalige Flüchtlingslager. Los ging ihr Erfahrungsbericht bereits am Bahnhof, wo sie sich an ihre Ankunft 1987 erinnerte. Ein Kiosk blieb ihr im Gedächtnis: »Da gab es Bananen und anderes Obst. Eben alles, was es in der DDR auf Zuteilung und selten gab. In Gießen gab es das einfach so zu kaufen. Das haben wir sofort getan und war klasse«, erinnert sich die 56-Jährige an etwas, was für Menschen im Westen selbstverständlich war. »Wir wurden bei unserer Ankunft von Anwohnern angeguckt wie Außerirdische«, sagte sie und musste lachen. Doch auch Gießener wirkten wegen ihrer anderen Kleidung und ihrer selbstbewussteren Haltung fremd auf sie.

Am ehemaligen Lager im Meisenbornweg angekommen, läuft die Gruppe am Pförtnerhaus vorbei, das auch schon damals vorhanden war. Im Innenhof beschreibt Tittmann, wo ihre Unterbringung für die nächsten drei Tage war und sie ihre Mahlzeiten bekam. »Es tat gut, so umsorgt zu werden.« Nachdem sie von ihrer Tante abgeholt werden konnte, sei es aufregend gewesen, Gießens bunte Innenstadt kennenzulernen.

In einem weiteren Podcast beschäftigten sich Hendrik Holes, Tim Groll, Nico Schneider, Felix Kämmer und Niklas Patzel näher mit dem Leben im Flüchtlingslager. Das erzählen sie mit einem fiktiven 12-Jährigen und seiner Familie in den 60er-Jahren. Anhand von Quellenmaterial aus dem Stadtarchiv konstruierten die Studenten eine Geschichte, die von viel Langeweile für den Jungen geprägt ist. Viel Unterhaltung, außer etwa Filmabende, gab es im Lager nicht.

Erinnerungen aufrecht erhalten

Eine weitere Gruppe führte Befragungen im Seltersweg durch und kam zu dem Ergebnis, dass sich von etwa 30 Befragten nur eine Person an das Notaufnahmelager Meisenbornweg erinnert. Ein Problem, findet auch Hannah Ahlheim, die bei einem Besuch mit ihrem Seminar vor Ort nur wenige Erinnerungsstücke fand: »Zur Zeit ist es nur ein total anonymes Gelände mit einem großen Zaun.« Das soll sich bis Ende 2024 ändern: Geplant ist bekanntlich ein moderner Erinnerungs- und Gedenkort.

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