Weniger Taktik – mehr Tempo
Tiefenläufer Timo Werner gibt dem DFB-Team Frechheit, Geschwindigkeit und Variabilität. Alles Eigenschaften, die die deutsche Mannschaft auf dem Weg zur angestrebten Titelverteidigung noch brauchen dürfte.
Es gehört zu den jetzt nicht vollkommen überraschenden Erkenntnissen dieser Fußball-WM, dass Tempo von entscheidender Bedeutung ist; Geschwindigkeit im Denken und Handeln und Speed auf den Beinen. Joachim Löw hat aus der deutschen Mannschaft über die Jahre hinweg eine Pass- und Positionsspielmaschine gebastelt, er hat das sehr gut gemacht, aber er hat irgendwann auch erkennen müssen, dass diese Methode der fußballerischen Fortbewegung ein wenig Staub angesetzt hatte. Staub mag der Bundestrainer nicht, Fahrtwind bläst Staub weg, also hat auch Löw aufs Gaspedal getreten und ein bisschen Taktik zugunsten etwas mehr Tempo geopfert. Das passt in den neuen Ansatz des modernen Fußballs, der im DFB in der Talentförderung lange vernachlässigt wurde und nun verstärkt verfolgt wird: Individualität fördern, Frechhheit fordern, Mut zur Einzelleistung unterstützen.
In dieses Passepartout passt Timo Werner (Bild) präzise hinein. Er war schon als Jugendlicher so gut, dass die Trainer in der Stuttgarter Talentschmiede ihn nicht im Taktikkorsett ersticken ließen. Die Rückennummer 9 weist den 22-Jährigen zwar als Mittelstürmer aus. Sein Beschäftigungsfeld geht aber weit über den gegnerischen Strafraum hinaus, auch Südkorea soll das am Mittwoch (16 Uhr) zu spüren bekommen. Da braucht Deutschland Tore, um sicher das Achtelfinale zu erreichen.
Der gebürtige Stuttgarter, dessen rechter Fuß viel besser ist als sein gewiss auch nicht ganz schlechter linker, hat sich zu einem vollvariabel einsetzbaren Offensivmann entwickelt. Er kann auch über die rechte Seite angreifen, aus der Tiefe kommen oder über links wirbeln. Das hat er beim Do-or-Die-Spiel gegen Schweden eine Halbzeit lang auf Weisung des Bundestrainers getan – und damit dem deutschen Angriff einen völlig neuen Schwerpunkt verschafft. Werner bereitete von dort beide Tore vor.
Danach hat es Werner nicht geschafft, zur Seitenlinie zu rennen, wo bald eine saftige Spielertraube um den Torschützen wuchs. »Ich bin einfach zusammengeklappt«, berichtete Werner am Montag, als der DFB ihn auf einem hohen Podium im Pressezentrum von Watutinki präsentierte. Seine tief liegenden Augen leuchten noch immer nach, wenn er sich erinnert. Schon direkt nach dem Spiel hatte er in prägnanten Worten erzählt, wie es ihnen zuvor ergangen war. Das 0:1 sei »ein Schlag in die Fresse« gewesen, »da sind unsere Köpfe nicht arg weit höher gekommen als bis zu den Knien«, nach dem Schlusspfiff seien ihm »fast die Tränen gekommen, weil es so geil war«.
Der Junge hat sich etwas Erfrischendes nicht nur in seiner Spielweise bewahrt. Er versteckt sich nicht hinter dem üblichen Basiswortschatz der Branche, sondern drückt auch verbal aufs Tempo. Aus dem Erlebnis von Sotschi gegen Schweden leitet der Tiefenläufer eine konkrete Forderung an sich selbst und die Kameraden ab: »Wenn wir die Steilvorlage nicht nutzen und darauf durchs Turnier reiten, dann hätte das Spiel nichts gebracht.« Er selbst sitzt noch immer staunend im Sattel: »Bei einer Weltmeisterschaft ins Stadion einzulaufen, diese Stimmung, das Gefühl kann man gegen kein Geld der Welt eintauschen.«
Auch schwere Zeiten überstanden
Es hat auch schon ganz andere Gefühlslagen im Sportlerleben des Timo Werner gegeben. Nach seiner Schwalbe gegen Schalke 04 wurde der junge Mann fast ein Jahr lang in einem öffentlichen Tribunal durchs Land getrieben. Bei Länderspielen kamen die Pfiffe besonders schrill, sogar der Abschied von Lukas Podolski (März 2017) wurde davon übertönt. Werner ist daran nicht zerbrochen.
Fußballerisch ist die deutsche Nationalelf ohne den Torschützenkönig des Confed-Cups praktisch nicht mehr vorstellbar, jedenfalls nicht als Truppe, die ernsthafte Titelambitionen hegen könnte. Löws Assistent Marcus Sorg erklärt die Idee des deutschen Angriffsspiels so: »Wir leben von der Variabilität. Es soll ein ständiges Wechselspiel sein, das die Gegner vor Probleme stellt.« Werner und Marco Reus, den beiden schnellsten Männern im Kader, kommt dabei gemeinsam mit Thomas Müller die Rolle der ständigen Rochade zu. »Wir sind frei im Spiel, was die Positionen angeht«, sagt Reus, »wichtig ist dabei nur, dass die gefährlichen Räume besetzt sind, um die Gegner durcheinanderzubringen.«
Weniger variabel stellt sich das deutsche Spiel dar, sobald Werners Ratgeber Mario Gomez dabei ist. Der mit fast 33 Jahren älteste Spieler im Kader, ein Mittelstürmer traditioneller Prägung, gehört als Endverwerter zentral vors Tor. So kam es, dass Timo Werner gegen Schweden nach der Pause nicht mehr in vorderster Front unterwegs sein durfte, sondern mehr auf dem Flügel agieren musste. Gegen tiefstehende Gegner ist das eine Strategie, »die mir vielleicht entgegenkommt«, sagt er, macht aber auch deutlich, dass es sich dabei keineswegs um eine Liebensdienst handelt. Später im Turnier, wenn die Großen warten, die sich nicht nur aufs Zumauern verstehen, sondern Luft geben, hinter ihre letzte Verteidigungslinie zu gelangen, möchte Werner dann doch ganz gern zurück ins Zentrum.
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