Vingegaard wie einst Armstrong

Jonas Vingegaard hat auf der 18. Etappe der Tour de France auf spektakuläre Weise für eine Vorentscheidung im Kampf ums Gelbe Trikot gesorgt. Simon Geschke verlor derweil das Bergtrikot.
Jonas Vingegaard blickte sich kurz um, bremste sein Tempo herunter - und wartete auf seinen gestürzten Konkurrenten Tadej Pogacar. Rund 21 Jahre, nachdem der damalige Tour-Dominator Lance Armstrong auf den in einen Graben gestürzten Jan Ullrich gewartet hatte, zeigte nun auch Vingegaard sportliche Größe. Es war DAS Bild der diesjährigen Tour de France.
Sekunden später gaben sich der Titelverteidiger, der leichte Verletzungen davongetragen hatte, und der Mann im Gelben Trikot die Hand und fuhren für einen kurzen Moment einträchtig nebeneinander her - mitten im Kampf um den Sieg beim wichtigsten Radrennen der Welt.
Und ähnlich wie Armstrong, der 2001 im Anschluss locker den heute aberkannten Tour-Sieg Nummer drei herausfuhr, sollte auch Vingegaard seine Aktion nicht bereuen.
Vor den Augen von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron zog er am anschließenden Schlussanstieg nach Hautacam an, ließ Pogacar zum zweiten Mal bei der Tour stehen und sorgte beim finalen Pyrenäen-Showdown für eine Vorentscheidung.
»Es ist unglaublich. Dieser Sieg ist für meine Freundin und meine Tochter zu Hause«, sagte Vingegaard voller Stolz nach seinem zweiten Tageserfolg, wollte sich jedoch nicht gratulieren lassen: »Ich möchte noch nicht über den Gesamtsieg reden. Es gibt noch zwei Tage - lasst uns in Paris darüber sprechen.«
Vingegaards Bescheidenheit ist verständlich, doch die Tour ist nach 18 von 21 Etappen so gut wie entschieden. Über eine Minute nahm er seinem zweitplatzierten Widersacher auf der letzten Bergetappe der Tour am Donnerstag ab. In das entscheidende rund 40 km lange Einzelzeitfahren am Samstag geht der Jumbo-Visma-Fahrer mit einem wohl uneinholbaren Vorsprung von 3:26 Minuten auf Pogacar (UAE) und 8:00 Minuten auf den drittplatzierten Briten Geraint Thomas (Ineos Grenadiers).
Die Triumphfahrt des neuen Tour-Dominators hatte nebenbei negative Auswirkungen auf eine große deutsche Tour-Hoffnung. Vingegaard verdrängte durch seinen Sieg den Träger des gepunkteten Trikots, Simon Geschke, von der Spitze der Bergwertung - und ist dort nicht mehr einholbar.
Der 36-Jährige Berliner musste früh den Strapazen der vergangen Tage Tribut zollen, sammelte keine Punkte und muss sich nun damit begnügen, das Trikot stellvertretend für Vingegaard zu tragen. Als Geschke am ersten Anstieg des Tages hinauf zum Col d‹Aubisque mit zwischenzeitlich nur 20 Sekunden Rückstand der Gruppe nachhetzte, ließ sich er sich schließlich entkräftet und enttäuscht zurückfallen.
»Die letzten Tage waren natürlich super, aber heute sind mir einfach die Kräfte ausgegangen. Die Beine waren einfach nicht gut genug«, sagte Geschke im Anschluss gefasst: »Ich würde es lieber morgen nicht mehr tragen. Jetzt bin ich halt die Schaufensterpuppe, die das Trikot nach Paris fahren darf.« SID