Niemeier nutzt die große Bühne

Eine dreimalige Grand-Slam-Siegerin, eine zweifache Mutter und ein Talent bleiben in Wimbledon im Rennen. Zu Angelique Kerber, Tatjana Maria und Jule Niemeier gesellt sich auch »Glückspilz« Oscar Otte.
Es war beileibe nicht so, dass Angelique Kerber ihr anspruchsvolles Tagwerk unter Ausschluss der Öffentlichkeit verrichten musste. Die frühere Wimbledonsiegerin durfte für ihren Drittrundeneinzug in die schmucke Schüssel Nummer zwei im Süden des All England Clubs. Die große Bühne allerdings bekam Jule Niemeier, die von 2017 bis 2021 für den TC Bad Vilbel aufgeschlagen hat. Und Niemeier nutzte diese mit Bravour zu einer der großen Überraschungen des bisherigen Turniers.
Nachdem die 22 Jahre alte Wimbledon-Debütantin aus Dortmund die an Position zwei gesetzte Estin Anett Kontaveit mit 6:4, 6:0 in unter einer Stunde überrollt hatte, brauchte sie einen Moment, um sich beim Interview zu sortieren. »Ich bin sprachlos«, sagte Niemeier und fand dann doch passende Worte: »Hier auf Court 1 zu gewinnen, ist ein unglaubliches Gefühl.«
Das Kerber bei ihrem 14. Besuch an der Church Road schon oft erlebt hat. Sie weiß aber längst: Wimbledonsiege sind auf jedem Platz nett, gerade, wenn sie so hart erkämpft sind wie das 6:3, 6:3 gegen die unangenehme Magda Linette aus Polen. Mit all ihrer Rasen-Erfahrung hielt sich Kerber (34), die später von ihrem »Magic Place« sprach, schadlos und im Rennen um ein weiteres Top-Ergebnis bei ihrem Lieblings-Grand-Slam.
Das haben Tatjana Maria und Oscar Otte bereits erzielt. Maria stellte nur 15 Monate nach der Geburt ihrer zweiten Tochter ihr bestes Wimbledonergebnis ein. Sie überraschte die Rumänin Sorana Cirstea, Nummer 26 der Setzliste, beim 6:3, 1:6, 7:5. Otte, der noch immer auf der Suche nach seiner auf dem Hinflug verschollenen Tennistasche ist, in der ein Glücksstein seines Vaters lag, hatte nach der Aufgabe seines Gegners Christian Harrison (USA) im ersten Satz früh Feierabend.
Niemeier musste dagegen noch einige Medientermine abarbeiten, das Interesse an der Weltranglisten-97. ist gestiegen. Nach dem ersten Sieg über eine Top-10-Spielerin musste sie aber so viele Fragen wie selten beantworten. Kein Wunder: »Das war eines der besten Matches, das ich je gespielt habe«, sagte sie und kündigte selbstbewusst an: »Ich kann fast jede hier schlagen.« Nach zwei Matches ist sie nicht nur wie Kerber noch immer ohne Satzverlust, Niemeier hat sogar kein einziges Aufschlagspiel abgegeben. »Ich liebe es, auf Rasen zu spielen«, sagte sie, der Belag passt zu ihrem offensiven Spiel, mit dem auch am Freitag gegen die Ukrainerin Lesia Zurenko nicht Schluss sein muss.
Bundestrainerin Barbara Rittner dürfte sich bestätigt fühlen, sie hat Niemeier schon länger auf dem Zettel, nicht erst für die Zeit nach der »goldenen Generation« um Kerber. »Jule besitzt alle Waffen für eine Spitzenspielerin. Ich traue ihr die Top 20 in der Welt zu«, sagte Rittner dem WDR und lobte Niemeiers Spielintelligenz und das »unglaubliche Händchen«. Das zahlt sich aus. Zwar gibt es in diesem Jahr in Wimbledon keine Punkte, dafür eine Menge Geld. Niemeier hat jetzt bereits 120 000 Pfund sicher. Immerhin 78 000 Pfund nimmt Maximilian Marterer mit nach Hause. Der Qualifikant aus Nürnberg ging nach dem 2:6, 2:6, 6:7 (3:7) gegen Frances Tiafoe (USA) am Mittwoch als einziger deutscher Verlierer vom Platz.
