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»Medaillen sind nicht planbar«

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imago1011837293h_060822_4c © Imago Sportfotodienst GmbH

Siebenkämpferin Carolin Schäfer spricht im Interview über Systemprobleme in der deutschen Leichathletik, alternative Förderprogramme für den Übergang in den Erwachsenenbereich und ihre Form vor der Heim-EM in München (15. bis 21. August).

Frau Schäfer, Sie haben auf den Start bei der Leichtathletik-WM in Eugene wegen Trainingsrückständen verzichtet. Wie weit haben Sie die kurz vor dem Start der EM in München aufgeholt?

Stück für Stück. Mal sehen wie viel Rückstand ich noch an Tag X in München habe (lacht).

Mussten Sie in der Vorbereitung mit dem Training aussetzen oder was hat nicht gepasst?

Die Vorbereitung um den Wettkampf in Ratingen war sehr holprig und ich war danach auch ziemlich ausgelaugt. Wir haben gemerkt, dass da noch einige Baustellen offen sind, an denen wir zu arbeiten und zu feilen haben.

Welche waren das?

Wer mich kennt, weiß, dass diese 6170 Punkte in Ratingen absolut nicht der Maßstab sind. Vor allem die Sprint- und Sprungdisziplinen haben nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Wir haben danach im Team offen und ehrlich über die möglichen Gründe gesprochen. Im Anschluss wurde an der Isomed-Kraftmaschine am Olympiastützpunkt Hessen ein Kraftdefizit festgestellt. So musste ich die letzten Wochen im Kraftraum nachsitzen. So hart der Rückschlag in Ratingen für mich war: Er war wichtig, weil er früh in der Saison kam. Es war genug Zeit für Veränderungen.

Wo lag der Schwerpunkt?

Auf der Beinkraft, Maximalkraft und der Schnellkraft. Die Werte bei der Maximalkraft wie ich sie aus den Vorjahren gewohnt war, haben nachgelassen. Ich habe spezifische Kraftübungen gemacht, die an den Disziplinen angelehnt sind, um Beuger, Strecker und Po zu trainieren. Viele Mehrfach-Sprünge, spezifische Sprints. Das mussten wir auch erst im Team lernen. Es war die erste vorbereitende Saison, die normal verlief, seit ich bei Michael und Stefanie Kaul trainiere. 2020 war Corona, 2021 hatte ich die Impfnebenwirkungen.

Spüren Sie da noch irgendwelche Nachwirkungen?

Nein, gar nicht mehr. Auch nach Tokio ist nichts mehr aufgetreten.

Vergangenes Jahr sind Sie nach Ihren eigenen Worten als »Wundertüte« nach Tokio gereist. Als was reisen Sie nach München?

Ein Stück weit natürlich wieder als Wundertüte (lacht). Ich konnte nicht die Wettkämpfe machen, weil ich in einem anderen Aufbautraining gesteckt und den Fokus auf die sukzessive Trainingsentwicklung gelegt habe. Durch die Vorbereitung auf Tokio habe ich gemerkt, dass ich nicht mehr unbedingt auf Test-Wettkämpfe angewiesen bin und entsprechende Leistungsentwicklung auch im Training sehen kann. Es hätte mir aber ein ruhigeres Gefühl gegeben. Für was es am Ende reicht? Keine Ahnung. Ich habe aber eine bessere Form als in Ratingen.

Können Sie dann überhaupt ein Ziel formulieren?

Bei der WM hat man gesehen, dass das Niveau unfassbar stark ist. Da muss ich fair sagen, dass ich dazu in diesem Jahr nicht in der Lage bin. Nichtsdestotrotz weiß man nie, wie die Siebenkämpferinnen die WM und den Reisestress weggesteckt haben. Ich möchte natürlich mein Bestes geben, eine Top-6-Platzierung wäre immer schön. Wenn es am Ende für eine Medaille reicht, umso besser. Ich werde dafür kämpfen bis zum Schluss. Wir haben eine Heim-EM. Das kann noch mal beflügeln. Darauf freue ich mich einfach.

Das Gefühl kennen Sie ja noch bestens aus Berlin, wo Sie 2018 Bronze gewonnen haben.

Das war auch einer der Gründe, zu sagen, ich verzichte auf die WM und mache die EM, weil sie für mich emotional höherwertig ist. Wenn ich an München denke, denke ich an Berlin. Das hat für mich einen absolut anderen Stellenwert.

Nach Eugene gab es in Deutschland eine Debatte um die WM-Bilanz. Von manchen wurde sie als blamabel bezeichnet. Wie bewerten Sie das?

Das Gesamtergebnis, das bei der WM in Eugene erbracht wurde, kann man nicht schönreden und auch nicht beschönigen. Aber die Athletinnen und Athleten vor Ort sind diejenigen, die am wenigsten dafür können. Viele sind aufgrund der Weltrangliste im mittleren Bereich angereist und haben ihr Leistungsvermögen auch erbracht. Wir haben einfach nicht mehr die Medaillenkandidaten in der Breite, sondern man verlässt sich auf eine Handvoll Athleten, die am Ende die Medaillen holen sollen. Das ist natürlich fatal. Medaillen sind nicht planbar. Denen Druck zu machen, finde ich enorm schwer. Es ist viel mehr ein Systemproblem.

Es gibt die Polizei und die Bundeswehr, wo viele Athletinnen und Athleten sind. Da funktioniert das System ja ganz gut. Wo funktioniert es nicht?

Ich sehe das Hauptproblem im Übergang von der U20 und der U23 in den Erwachsenenbereich. Man sieht, dass wir in der U18 und U20 gut aufgestellt sind und international Medaillen holen, aber der Übergang funktioniert oft nicht. Durch die Corona-Pandemie sind uns in der Jugend zudem viele abhandengekommen, die nicht im Kader waren, die nicht im Winter die Möglichkeit haben, in den Hallen zu trainieren. Diese Breite in der Jugend brauchen wir, um sie sukzessiv zu entwickeln, sie irgendwann an die Erwachsenen heranzuführen und dann in der Spitze zu etablieren. Einige Medaillenkandidaten sind zudem in einem Alter, in dem sie in ein oder zwei Jahren aufhören. Die Frage ist: Was kommt dann?

Wie müsste man da gegensteuern?

Wir müssen Förderprogramme entwickeln, die Kindern und Jugendlichen eine Perspektive geben, neben ihrer dualen Karriere auch auf den Sport zu setzen. Man muss fragen: Was passiert nach der schulischen Ausbildung? Welche Möglichkeiten hat man? Wie fördert man die jungen Erwachsenen? Kann man den Eltern vielleicht finanziell unter die Arme greifen ? Nicht alle können sich das leisten. Das ist der Knackpunkt. Ich kann nachvollziehen, dass nicht jeder zur Polizei oder Bundeswehr möchte, daher müssen alternative Angebote geschaffen werden.

Also mehr Engagement von der Politik?

Sicherlich. Dafür ist der Austausch mit den Athletinnen und Athleten wichtig. Die wissen am besten, welche Unterstützung sie brauchen. Das ist immer individuell. Aufgrund der fehlenden Angebote gehen viele ins Ausland.

Im Mehrkampf ist da Leo Neugebauer das beste Beispiel, der ein Stipendium an der University of Texas in Austin hat.

Die Stipendienangebote sind immer da. Ich hatte das damals auch. Wenn man diese Möglichkeiten hat und mit Deutschland vergleicht, kann ich verstehen, warum viele Jugendlichen nach ihrem Schulabschluss ins Ausland gehen.

TIMUR TINC

FOTO: IMAGO

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