Marias Märchen geht weiter

Tatjana Maria gewinnt das deutsche Wimbledon- Viertelfinale in einem Dreisatzkrimi gegen Jule Niemeier. Die 34-Jährige ist nur noch zwei Siege vom Sensationstriumph entfernt. Nach dem Sieg denkt sie an ihre Familie.
Tatjana Maria ließ den Schläger fallen, schlug die Hände vor den Mund, und als sie Jule Niemeier am Netz in den Arm fiel, kamen ihr die Freudentränen. »Ich hätte sie am liebsten gar nicht mehr losgelassen«, sagte Maria bei Sky, doch die Wege der deutschen Wimbledon-Überraschungen mussten sich trennen. Die Comeback-Königin spielt nach dem anfangs nervösen, am Ende emotionalen und spannenden 4:6, 6:2, 7:5 um den Einzug ins Endspiel. Debütantin Niemeier verließ nach über zwei Stunden den Tennis-Court und später den All England Club erhobenen Hauptes. Ihre Hände hatte sie zu einem Herz geformt.
»Ich habe überall Gänsehaut, wir haben Deutschland stolz gemacht«, sagte Maria. Trotz aller Enttäuschung sagte auch Niemeier, die im entscheidenden Satz 4:2 geführt hatte: »Ich habe es genossen, es gibt sehr viele positive Dinge, die ich mit ein bisschen Abstand mitnehmen kann.« In Marias Box jubelte Ehemann Charles Edouard, die Töchter Charlotte (8) und Cecilia (1) dürften kleine Stars in der Kinderbetreuung im Trainingspark gewesen sein. Ihre Mama im Halbfinale des bedeutendsten Tennisturniers der Welt: Damit hatte niemand gerechnet. »Es ist ein Traum, das mit meiner Familie, mit meinen zwei kleinen Töchtern zu erleben«, sagte Maria und schüttelte ungläubig den Kopf: »Verrückt.« Im Alter von 34 Jahren, nur 15 Monate nach der zweiten Geburt, steht Maria als insgesamt fünfte Deutsche im Halbfinale von Wimbledon, sie darf davon träumen, in die Fußspuren der siebenmaligen Siegerin Steffi Graf oder ihrer langjährigen Weggefährtin Angelique Kerber, der Siegerin von 2018, zu treten. Doch zunächst wartet am Donnerstag Ons Jabeur (Tunesien), eine Freundin der Familie, im Halbfinale. Sie bezwang Marie Bouzkova (Tschechien) mit 3:6, 6:1, 6:1. Dann wird Maria wieder ihr Kämpferherz zeigen müssen. Auch gegen Niemeier lag sie mit Satz und Break in Rückstand, ehe sie ins Match fand. »Nur am Anfang hat sie mir ein paar Punkte geschenkt, in den entscheidenden Momenten hat sie extrem gut gespielt«, sagte die 22 Jahre alte Dortmunderin bewundernd: »Tatjana ist immer da, wo am Ende der Ball ist. Keine Ahnung, wie sie das macht.« Comeback-Qualitäten hatte Maria, die für ihren Erfolg umgerechnet 622 000 Euro kassiert, auch nach ihren beiden Schwangerschaften bewiesen. »Ich habe immer dran geglaubt, dass ich es schaffen kann«, sagte sie: »Es ist egal, wie alt du bist, oder wie viele Kinder du hast. Wenn du an dich selbst glaubst, kannst du es schaffen.«
Mit dieser Einstellung hatte sie im Achtelfinale die frühere French-Open-Siegerin Jelena Ostapenko rausgeworfen, obwohl sie deutlich zurücklag und nur einen Punkt vom Aus entfernt war. »Wenn es eine verdient hat, dann sie«, sagte Bundestrainerin Barbara Rittner über Marias »mit Abstand größten Erfolg« der Karriere.
Niemeier darf sich mit 360 000 Euro Preisgeld trösten. Punkte für die Weltrangliste bekommt sie nicht, die waren dem Turnier nach dem Ausschluss russischer und belarussischer Spielerinnen und Spieler entzogen worden. Für das Hauptfeld bei den US Open braucht die Nummer 97 im Ranking daher in den kommenden Wochen gute Ergebnisse. Ihr überraschender Lauf in Wimbledon dürfte Niemeier das Selbstvertrauen dafür geben. »Jule hat gezeigt, dass dies nur der Anfang ist«, sagte Rittner: »Da steckt so viel mehr drin. An ihr werden wir viel Freude haben.«