Lieberknecht führt die Lilien in neue Sphären

Live im Stadion musste sich Torsten Lieberknecht die Vorzüge - und für ihn noch wichtiger: die Schwachstellen - des nächsten Gegners nun wirklich nicht ansehen. Die hat der Trainer des so erfolgreichen Fußball-Zweitligisten SV Darmstadt 98 zur Genüge beobachtet. »Besser als die Bayern«, sei die Eintracht, lobhudelte Lieberknecht noch bevor der Europa-League-Sieger in München einen Punkt ergatterte und kurz drauf locker-flockig die Berliner Hertha zurück in die Hauptstadt ballerte.
Dieses 3:0 vom Samstag ließ Lieberknecht aus, zumindest vor Ort, und schickte stattdessen Edelhelfer Kai Peter Schmitz, ausgestattet mit Zettel und Kuli, in den Frankfurter Stadtwald. Überraschungen an diesem Dienstag (20.45 Uhr) dürfte es für den Tabellenführer aus Liga zwei beim Gastspiel am Main dennoch nicht geben. Denn Lieberknecht ist entgegen seinem Ruf, der ihn vordringlich als exzellenten Motivator und Teamplayer adelt, auch ein gewiefter Taktiker. Der 49-Jährige kann nicht nur zum Kämpfen und Beißen animieren, sondern auch die kleinen Feinheiten in Systematiken erkennen, die am Ende das große Ganze beeinflussen. Zu bestaunen in der laufenden Saison.
Gewann Darmstadt im Vorjahr viele Spiele mit vielen Toren, durchzog eine gewisse Wildheit die Auftritte, hat sich dies gewandelt. Die Abwehrstärke, selbst zuletzt ohne den verletzten Besten Patric Pfeiffer (Muskelbündelriss im Oberschenkel) mündete in etlichen knappen Siegen, über die sich freilich niemand grämen sollte. Lieberknecht hat aus der Not, dem Abgang von Torjäger Luca Pfeiffer, eine Tugend gemacht. Er hat erkannt, zu was sein Personal taugt, und zu was eher nicht - und die Spielidee angepasst. Er weihte die Profis früh ein in seine Vorstellungen, nahm sie mit auf die Reise der noch härteren Abwehrarbeit, vor allem die Wortführer wie Torwart Schuhen, Kapitän Holland, Abräumer Gjasula, Gestalter Kempe oder Knipser Tietz, die ihrerseits dem Coach vertrauen und ihm ohne Zögern folgten. Das Zwischenergebnis spricht für sich.
Die Lilien sind auf dem Weg in die Bundesliga, die 20 Pflichtspiele andauernde Ungeschlagenserie zeugt von ausgesprochener Konstanz. Und selbst wenn es der Endstand anders vermuten lässt, spielten die Darmstädter auch am vergangenen Freitag beim 4:0 in Sandhausen nicht spektakulär, dafür aber effizient. Ein Schlüssel für den Erfolg - in Liga wie Pokal. So schalteten sie bereits in der vorherigen Runde den Bundesligisten Borussia Mönchengladbach (2:1) aus. Abgezockt, stabil, mutig.
Trainer Lieberknecht passt zum Klub, der Klub zu ihm - und dazwischen kein Blatt Papier. Der Pfälzer, verheiratet, drei Kinder, begreift die Arbeit beim SVD nicht als Durchgangsstation wie sein Vorgänger Markus Anfang, er will lieber gemeinsam mit den Lilien wachsen. Lieberknecht, der einen Vertrag bis 2025 besitzt, taucht ein in den Klub, in die Stadt, mischt sich unters Volk. Gerne ist er unterwegs mit dem Rad, sitzt in Cafés, wo die Menschen auf ihn zugehen, und umgekehrt. Nähe zulassen, Schwingungen aufsagen, scherzen, klare Kante zeigen, wenn ihm etwas nicht passt.
Er scheut den Kontakt nicht, er sucht ihn, nahm mit seiner Familie eine aus der Ukraine geflüchtete Mutter samt Sohn auf. Auch setzt er sich gerne mal samt Gitarre, deren Saiten er gekonnt zupft, in die Centralstation oder trällert Lieder in Kultclubs. Er nimmt Sponsorentermine meist gewissenhaft wahr. Eine ausführliche Vorbereitung braucht es dafür nicht, keine ellenlangen Fragenkataloge, Lieberknecht überzeugt mit fast immer sitzender Spontaneität.
Wer nun davon ausgeht, der Gefühlsmensch überlasse auch beim Fußball, etwa im Nachbarschaftsduell gegen die Eintracht, vieles dem Zufall, der täuscht sich. Der Plan des Trainers steht gewiss längst bis ins Detail fest. Und oft genug sind jene eben besser als die der Gegner. DANIEL SCHMITT