Letzter Akt des »Bahnsinns«
(sid). »Berlin-Queen« Emma Hinze hat den Spaß am Sprint wiederentdeckt, Olympiasiegerin Lisa Brennauer nach den Triumph-Tagen von Tokio richtig Lust auf die Krönung eines überragenden Jahres: Für die deutschen Bahnrad-Stars ist die am Mittwoch beginnende WM im mythischen Roubaix am Ende einer knüppelharten Saison viel mehr als lästige Pflicht - dem großen Sommer soll ein goldener Herbst folgen.
»Meine Einstellung ist anders als vor Olympia. Da war alles sehr ernst und verbissen, weil sehr viele Menschen sehr viel von mir erwartet haben«, sagt Hinze vor dem Schlussakt des »Bahnsinns« im Jahr 2021: »Vielleicht muss man da einmal durch. Jedenfalls ist der Spaß im Training zurück, und ich hoffe, dass der auch im Wettkampf bleibt.«
Bei der glanzvollen Heim-WM in Berlin im Februar 2020 war die 24-jährige Cottbuserin mit drei Titeln - Sprint, Teamsprint, Keirin - die strahlende Dominatorin. Danach aber machten Hinze die quälende Untätigkeit in der Corona-Krise und vor allem die öffentliche Bewertung ihres Olympia-Abschneidens (Platz zwei im Teamsprint, Platz vier im Sprint) zum nachdenklichen Menschen.
Dass Tokio-Silber teils als Trostpflaster oder leise Enttäuschung abgetan wurde, »finde ich nicht fair und ein bisschen traurig«, sagt Hinze, es sei »ein blöder Beigeschmack« geblieben. Ein wenig Zeit, dies zu verarbeiten, hatte sie immerhin, die EM in der Schweiz Anfang Oktober ließ sie aus, die Pause habe ihr gutgetan. Wenngleich sie »keine Ahnung, ehrlich gesagt« habe, wo sie stehe.
Volle Rückendeckung hat Hinze bei Bundestrainer Detlef Uibel. »Nach einem solchen Superergebnis bei einer Heim-WM ist klar, dass man daran gemessen wird. Emma hat am eigenen Leib erfahren, welchen Druck das bringt«, sagt der 62-Jährige, der überraschend am Dienstag seinen Rückzug zum Saisonende nach 25 Jahren als Chefcoach verkündete.
Es sei »schwierig, die Bilanz von Berlin zu wiederholen«, meint Uibel mit Blick auf das Gesamtteam. Weil aber die EM wirklich gut lief, sind auch die Erwartungen an Roubaix groß - auch wenn in Lea Friedrich ein zentraler Bestandteil des deutschen Sprintteams krankheitsbedingt wackelt.
Während die Männer, die schon in Berlin nur eine von acht deutschen Medaillen gewannen, im Umbruch stecken, sind die Frauen in der Weltspitze eine Macht. Vor allem der Vierer um die nimmermüde Brennauer ist zum Statussymbol geworden - nach Olympiasieg und EM-Titel ist der goldene Hattrick greifbar. Auch wenn die an der Schulter verletzte Tokio-Stammkraft Lisa Klein fehlt.
»Wir können auch bei der WM weit vorne landen«, sagte Brennauer. Das nagelneue Innenoval im nordfranzösischen Radsport-Walhalla ist zwar auch für die 33-jährige Allgäuerin unbekanntes Terrain. Gleich nebenan durfte sich Brennauer aber schon unlängst austoben, als sie auf der altehrwürdigen Außenbahn zu Platz vier bei der Frauen-Premiere des Höllenritts Paris - Roubaix sprintete.
»Den Moment auf dem Velodrom werde ich nie vergessen, da waren so viele Emotionen«, sagt Brennauer, die auch in der WM-Einzelverfolgung Goldkandidatin ist: »Umso schöner ist es jetzt, wieder hier zu sein.«