Hölle hoch zwei
(sid). Das Gesicht verschmiert mit Dreck und Matsch, die Finger taub von permanenten Erschütterungen, der ganze Körper für Tage eine Ruine: Die Hölle des Nordens verlässt niemand ohne Spuren. »Paris-Roubaix ist das Rennen, bei dem man den Kopf ausstellen und gar nicht überlegen sollte«, sagte der deutsche Radprofi Nils Politt: »Sonst hat man keine Chance.
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Lange hat sich kein Fahrer dieser Prüfung stellen können, am Sonntag hat das Warten ein Ende. 903 Tage nach der bislang letzten Auflage ruft das legendäre Kopfsteinpflaster von Paris-Roubaix - und es lässt tags zuvor erstmals auch die Frauen seine ganze Brutalität spüren. Sowohl das Männerrennen (257,7 km/55 km Kopfsteinpflaster) als auch das der Frauen (116,4/29,2) eint dabei ein Umstand: Im Norden Frankreichs wird am Wochenende Regen erwartet. Der Klassiker wird noch spektakulärer und dramatischer.
»Wenn die Wettervorhersage annähernd stimmt, wird das Rennen einen Charakter haben, wie wir es in den letzten Jahren nie hatten«, sagte John Degenkolb: »Es wird die Fahrweise auf dem Pflaster verändern. Es wird noch mal chaotischer und hektischer sein.«
Politt, der beim bislang letzten Ritt durch die »Hölle des Nordens« im Frühjahr 2019 Zweiter geworden war, pflichtete Degenkolb bei. »Selbst bei trockenen Verhältnissen ist Roubaix schon gefährlich. Umso gefährlicher wird es bei Regen«, sagte der Bora-Profi: »Man sollte in der Mitte des Pflasters fahren, dort ist es noch am besten. Ansonsten gilt: Kopf aus und treten.«
Paris-Roubaix war im Vorjahr wegen der Corona-Pandemie abgesagt worden. In diesem Jahr wurde der Termin aus dem Frühjahr in den Herbst verlegt. Letztmals war der Klassiker 2002 bei Regen ausgetragen worden. »Ich glaube, alle haben einen Heidenrespekt vor dem, was da am Sonntag auf uns wartet«, sagte Degenkolb.
Der Start des 32 Jahre alten Roubaix-Siegers von 2015 ist dabei nicht sicher. Degenkolb kämpft noch immer mit den Folgen seines schweren WM-Sturzes. »Ich habe enorme Schürfwunden. Es ist außergewöhnlich, wie viel Haut ab ist«, sagte Degenkolb, der am Freitag nach Paris reiste. Über ei nen Einsatz soll te kurzfristig entschieden werden.
Sicher ist dieser den Frauen. 125 Jahre nach der Roubaix-Premiere im Jahr 1896 dürfen am Samstag endlich auch sie die Besonderheit des Rennens erleben. »Wir alle haben es zigmal im Fernsehen gesehen. Die Brutalität, die Zuschauermassen, der unvergleichbare Charakter des Wettkampfes - es ist mit keinem Radrennen auf der Welt in Vergleich zu setzen«, sagte Bahn-Olympiasiegerin Lisa Brennauer.
Für die Entwicklung des Frauen-Radsports sei Paris-Roubaix »ein wichtiger Schritt nach vorne. Es ist ein Rennen mit einem sehr, sehr hohen Stellenwert, ein richtiges Monument«, sagte Brennauer: »Es wird bei uns im Frauenkalender direkt einen großen Platz einnehmen.«