Die Unvollendeten

Sie sind beide bei der Fußball-Nationalmannschaft. Der eine, Marco Reus, wieder, der andere, Ilkay Gündogan, noch. Daran war gezweifelt worden, weil Reus letztmals im Oktober 2019 ein Länderspiel bestritt und auf die EM 2021 verzichtete, und weil das Turnier für Gündogan mal wieder unerfreulich verlief und sich der Eindruck verfestigte: Er und die DFB-Auswahl, das passt einfach nicht.
Reus ist 31, seine Nationalmannschafts-Geschichte geht so: Drei erste Nominierungen scheiterten, weil er krank oder verletzt war, 2011 debütierte er, steht aber erst bei 44 Spielen. Vor dem Abflug zur WM riss gegen Armenien (Gegner nun am Sonntag) sein Syndesmoseband, vor der EM 2016 wurde er aus dem Kader gestrichen, weil er, so der damalige Bundestrainer Joachim Löw, »nur geradeaus laufen konnte«. Gündogan ist 30, sein erstes von 49 Länderspielen absolvierte er vier Tage nach Reus’ Einstand. Sein Körper hat ebenfalls alles durch, wie Reus war er bei EM 2012 und WM 2018 (plus der EM 2021), der Rest fehlt bei beiden.
»Ich habe Marco am Montag geflachst«, erzählt Gündogan, »dass ich fünf Spiele mehr habe als er - aber klar ist: Beide müssten wir deutlich mehr haben.« Und so jagt die Schicksalsgemeinschaft der Unvollendeten unter neuer Anleitung einem Erlebnis, einem Titel vielleicht, hinterher, dass die Karriere beim DFB abrunden würde. »Wichtig ist, dass man positiv bleibt. Doch das ist das, was Marco und ich in unserer ganzen Karriere gemacht haben: Wir versuchen, erfolgreich Fußball zu spielen.« Weil es in ihnen drinsteckt, weil es ein antrainierter Antrieb ist - und weil sie glauben, die Geschichte könnte sich zum Guten wenden. Was wiederum mit Hansi Flick zu tun hat, der am Donnerstag (20.45 Uhr/RTL) gegen Liechtenstein in St. Gallen sein Debüt als Bundestrainer gibt.
Gündogan räumt ein, die Frage, ob er weitermachen wolle in der Nationalmannschaft, habe sich gestellt - »aber nicht lange«. Flick rief an, »und es war ein sehr schönes Gespräch, in dem ich mir gegenüber Wertschätzung gespürt habe«. Darum entschloss Gündogan sich, »seine Ideen mit auf den Weg zu bringen«. Flick meldete sich auch bei Reus, erkundete, »ob ich noch Lust habe. Es war ein kons-truktives Gespräch«. Seine Entscheidung, die EM auszusparen, hatte Reus, so sagt er, unabhängig von weiteren Perspektiven beim DFB getroffen. »Ich brauchte einfach eine Pause für meinen Körper und meine Seele. Und es war richtig: Seit Langem habe ich in einer Saisonvorbereitung kein einziges Training verpasst.«
In den Telefonaten mit Flick ging es auch um die Rolle, die für sie vorgesehen ist. Gündogans EM-Performance litt darunter, dass aufgrund der Aufstellungskompromisse, die Löw einging, seine Aufgabe eine vor allem defensive war und man von außen den Eindruck gewann, Toni Kroos und er, die beiden Größen von Real Madrid und Manchester City, stünden sich im Wege. »Es ist schwierig, wenn man eine komplette Saison im Verein offensiv spielt, viel im gegnerischen Strafraum ist und sich bei der Nationalmannschaft in kurzer Zeit im Kopf umstellen muss auf defensivere Spielweise und dass man nicht mehr die Freiheit hat, nach vorne zu stoßen.«
Flicks Programm zum Neustart des Nationalmteams fasst Reus so zusammen: »Hansi ist dafür bekannt, die Spieler dort einzusetzen, wo er ihre größte Qualität sieht.« Er hat sich von den spielphilosophischen Vorstellungen Flicks überzeugen lassen: »Es ist immer gut, wenn man hoch presst und viele Meter macht.« Er ist der älteste Feldspieler und findet: Das ist noch eine Chance. Die letzte wohl. GÜNTER KLEIN