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Die Fragezeichen von Wembley

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Leroy Sané (l.), Joshua Kimmich und Kollegen geben vor der WM Rätsel auf. © Imago Sportfotodienst GmbH

Die Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft in Katar ist für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft eigentlich zu kurz. Dabei hätte Hansi Flick nach dem wilden 3:3- Unentschieden in England noch ganz viel Arbeit.

Für einen Moment sah Thilo Kehrer so ratlos aus wie die Touristen, die das erste Mal auf den Plan der London Unterground blicken. Nur starrte der deutsche Nationalspieler nicht auf verwirrende bunte Linien, sondern in den Nachthimmel über Wembley. Der Verteidiger hatte gefühlt Dutzende von Fragezeichen auf der Stirn, als er mit Schlusspfiff des anfangs zähen, später spektakulären 3:3 gegen England an der Außenlinie verharrte. Da hinterfragte einer den Stellenwert des Länderspiel-Klassikers und den Leistungsstand einer DFB-Auswahl, die sich keine zwei Monate vor der WM in Katar (20. November bis 18. Dezember) selbst ein Rätsel geworden ist.

Weshalb auch kaum einer der deutschen Protagonisten - mit Ausnahme des spät eingewechselten Thomas Müller - später etwas sagen wollte. Aber dafür sprach Bundestrainer Hansi Flick. Der 57-Jährige hat in seinem Berufsleben die Erfahrung gemacht, dass er seine Mitmenschen besser erreicht, wenn das Glas noch halb voll und nicht schon halb leer ist. »Ich bin von Haus aus positiv«, stellte der Heidelberger seiner Grundsatzerklärung aus der Fußball-Kathedrale voran. Und versprach sogleich: »Wenn wir uns am 14. November treffen, gehen wir mit einem positiven Gefühl zur WM. Viele Sachen haben wir gut gemacht.« Da spielte einer nach dem Wellenbad von Wembley den Gesundbeter.

Gleichwohl war seine Mannschaft vor dem Abflug in den Oman, wo man sich für die WM akklimatisieren will, ein siegreiches Signal schuldig geblieben. Auch DFB-Direktor Oliver Bierhoff war verärgert über das verpasste Erfolgserlebnis: Der 54-Jährige spürt, wie die im ersten Flick-Jahr geschürte Aufbruchsstimmung verfliegt.

Das DFB-Team hat von sechs Nations-League-Partien gegen England, Italien und Ungarn nur eines gewonnen - gegen die B-Elf des nicht für die WM qualifizierten Europameisters Italien. Gegen keine Topnation zog die Mannschaft den Plan bislang über die volle Spielzeit durch; das mag im Gegensatz zur WM 2018 diesmal in der Gruppenphase gegen Japan, Spanien und Costa-Rica gut gehen, aber schon in einem WM-Achtelfinale gegen Belgien oder Kroatien wäre Deutschland nicht mehr Favorit.

Zwar gilt der Fokus zunächst nur dem WM-Auftakt gegen enorm selbstbewusste und gut eingespielte Japaner (23. November), aber ein Titelanwärter ist der vierfache Weltmeister mitnichten - dafür steckt zu viel Wundertüte drin.

Die Leistungsschwankungen in Leipzig und London waren enorm. Darüber können auch die von Flick herausgehobenen »20 Minuten wirklich guter Fußball« am Montag nicht hinwegtäuschen. Die Lockerheit des Jungspunds Jamal Musiala - zusammen mit Torwart Marc-André ter Stegen und Doppeltorschütze Kai Havertz der einzige Gewinner dieser Länderspiele - ging den meisten Akteuren ab. Das Dilemma: Das Trainerteam hätte eigentlich bis zur Endrunde im Golf-Emirat ganz viel Arbeit, aber Flick hat keine Zeit, mit seinen Spielern zu arbeiten. Auf die meisten seiner Protagonisten wartet jetzt ein Hammer-Herbstprogramm mit 13 Partien in Europapokal, Bundesliga und DFB-Pokal. Nationaltrainer sind nunmehr nur Beobachter, nicht mehr Gestalter.

Das Einzige, was Flick tun kann: möglichst viele Spiele davon selbst beobachten, über eine digitale Plattform verschiedene Inhalte teilen und persönliche Gespräche führen. Er will die vorläufig zu nominierenden 50 WM-Kandidaten direkt in Kenntnis setzen - also auch Überraschungsgäste wie Mario Götze oder Niclas Füllkrug. Er riet bereits, »dass jeder Einzelne in dieser Zeit noch an sich arbeitet, für bessere Fitness, Sicherheit, Überzeugung, Passspiel. Da müssen wir noch besser werden.« Schließlich kam in der ersten Halbzeit kaum ein gescheiter Spielzug zustande, weil alles zu ungenau, zu verhalten angelegt war.

Zudem erschreckend, wieso ein 2:0-Vorsprung so naiv verspielt wurde. Luke Shaw, Jason Mount und Harry Kane demonstrierten binnen elf Minuten, dass ein Topverteidiger wie Antonio Rüdiger auf deutscher Seite nicht fehlen sollte; einmal mehr verschuldete Vertreter Nico Schlotterbeck ungeschickt einen Strafstoß. Die Feierlaune der zeitweise bereits verstummten 78 949 Fans verdarb ein traditionell patzender englischer Keeper in Person von Nick Pope. Flick wusste: »So können wir das besser verkraften als eine Niederlage. Nicht aufzugeben, ist das, was wir brauchen.« Dazu muss die riesige Portion Zuversicht ins Wüstengepäck, dass das umstrittenste WM-Turnier aller Zeiten nicht auch sportlich für Deutschland zum Stimmungstöter wird.

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