»Chaos kommt mit Ansage«
(dpa). Das IOC fürchtet den Verfall des weltweiten Sportsystems, Athletenvertreter erwarten ein Chaos und Sportler fühlen sich alleingelassen. Der Weltsport ist beim Thema der Wiederzulassung von Athleten aus Russland und Belarus zu internationalen Wettkämpfen gespalten und uneins wie nie. Die gut 30 Weltverbände der olympischen Sportarten sind etwa zu je einem Drittel dafür, dagegen oder haben noch nicht darüber entschieden.
Dies ergab eine Auswertung der Deutschen Presse-Agentur.
»Es droht also organisierte Verantwortungslosigkeit und ein Flickenteppich«, kritisierte Maximilian Klein, Direktor Sportpolitik von Athleten Deutschland. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) habe zwar Kriterien für eine Russen-Rückkehr als neutrale Sportler und Sportlerinnen gegeben, lege aber die Ausgestaltung und Kontrolle der Vorgaben in die Hände der Weltverbände: »Viele Umsetzungsfragen bleiben unbeantwortet, Schlupflöcher bestehen. Das Chaos kam mit Ansage.«
Wie kann man echte Neutralität bei Starts von Russen gewährleisten? Keine Flaggen, keine Hymnen, keine nationalen Symbole und Farben auf der Sportkleidung sind überprüfbare Kriterien. Schwieriger wird es, die Zugehörigkeit zum Militär oder die mögliche Beteiligung von Athleten an Kriegspropaganda im Angriffskrieg gegen die Ukraine zu bewerten.
»Es darf uns kein einziger Fehler unterlaufen und niemand zugelassen werden, der den Krieg unterstützt oder vom Militär abhängig ist«, warnte der deutsche Kanu-Weltverbandspräsident Thomas Konietzko. Eine »übergroße Mehrheit der Athleten« in seinem Sport sei aber dafür, Russen wieder antreten zu lassen.
Die Vereinigung der olympischen Sommersportverbände strebt an, dass russische Sportler als Voraussetzung für eine Starterlaubnis eine Neutralitätserklärung unterzeichnen. »Die Athleten werden eine Erklärung unterschreiben müssen«, sagte Präsident Ricci Bitti der französischen Zeitung »L'Équipe«. Sie würden aber nicht aufgefordert, sich gegen den Krieg auszusprechen, »weil das in Russland strafrechtlich relevant« sei.
Die Gemengelage im Weltsport ist kompliziert und komplex. Der vom russischen Oligarchen Alisher Usmanow lange gelenkte und finanzierte internationale Fechtverband hatte als einer der Ersten eine Pro-Russland-Entscheidung getroffen und einen Proteststurm Hunderter Athleten entfacht. »Wir stehen auf der Fechtbahn den Russen gegenüber und müssen es ausbaden«, klagte die deutsche Florett-Europameisterin Leonie Ebert. »Es wäre das Ende meines Traumes, wenn ich boykottiere.«
Konträr dazu ist die Haltung des Leichtathletik-Weltverbandes. »Der Tod und die Zerstörung haben meine Entschlossenheit in dieser Angelegenheit nur noch verstärkt«, erklärte Weltverbandspräsident Sebastian Coe, warum er die Russen auf absehbare Zeit nicht zulassen will. »Russische und belarussische Athleten, von denen viele mit dem Militär verbunden sind, sollten nicht Nutznießer dieser Aktionen sein.« Auch die Ukraine selbst reagiert auf Entscheidungen der Weltverbände. Nachdem die Judo-Funktionäre die Tür für Russen und Belarussen geöffnet haben, kündigten die Ukrainer den Rückzug von der WM in Katar an, die am Sonntag beginnt. Die ukrainische Regierung hat ihre Sportler aufgefordert, alle Wettbewerbe zu boykottieren, an denen Athleten der beiden Länder teilnehmen.
»Niemand kennt den richtigen Weg. In krisenhaften Zeiten muss man solche Situationen aushalten«, sagte Sylvia Schenk (70), die Mitglied im Menschenrechtskomitee des IOC ist. Sie attestiert dem IOC, mit seiner Russen-Rückkehr-Empfehlung und den dazu gelieferten Leitlinien »mehr oder weniger« die richtigen Schritte gemacht zu haben. Das IOC versuche, durch die Interessengegensätze zu navigieren, »damit der internationale Sport nicht völlig auseinanderbricht«. Denn es gehe eben auch darum, dass Russlands Präsident Wladimir Putin die Welt spalten wolle. Kritisch sieht sie die Position des Deutschen Olympischen Sportbundes, der weiterhin Starts von Russen ablehnt.