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»Wir würden gerne bleiben«

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Von: Sven Nordmann

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IMG_9562_2_060422_4c © Harald Friedrich

Oleksandra Kobzar und Anastasia Khilko kannten sich als Spitzensportlerinnen aus der Ukraine - geflüchtet, finden sie sich in Mittelhessen zufällig wieder und werden sportlich von der TSG Blau-Gold Gießen aufgenommen. Der Verein, der über 70 Nationalitäten beheimatet, dient als Integrationstreiber. Die Geschichte einer glücklichen Fügung unter unglücklichen Umständen.

Hallo, ich heiße Oleksandra, ich bin 18 Jahre alt. Ich komme aus der Ukraine. Ich liebe meine Mutter, meine Bruder, meine Vater. Und Entschuldigung: Was kosten die Tomaten?«

Oleksandra Kobzar spricht im Studio der TSG Blau-Gold Gießen ihre ersten deutschen Sätze nach rund einem Monat Aufenthalt in Deutschland. Beim rund 2000 Mitglieder starken Verein hat die Ukrainerin wie 15 andere Geflüchtete eine sportliche Heimat gefunden - und startet für die TSG bald unter heimischer Flagge bei den deutschen Meisterschaften am 10. und 11. Juni in Osnabrück.

Die Ukrainerin, die in ihrer Heimat 36 (!) Stunden in der Woche trainierte und die TSG Blau-Gold Gießen - eine glückliche Fügung unter unglücklichen Umständen. »Sie trainiert auf Meisterschaftsniveau, sie ist sehr diszipliniert und ehrgeizig«, sagt die gebürtige Gießenerin Nicole Gouriya. Die TSG-Trainerin für Aerial Hoop empfängt Oleksandra Kobzar mehrmals wöchentlich.

»Sie passen hier sehr gut rein. Wir pushen uns gegenseitig.« Gouriya, selbst Leistungssportlerin, will im Juni ihren Titel bei den deutschen Meisterschaften im Aerial Hoop (Sport und Artistik) verteidigen. »Es ist schön, dass beide da sind. Sie bringen neuen Input.«

Gouriya spricht von zwei Ukrainerinnen - die zweite begabte Athletin an den Ringen heißt Anastasia Khilko und ist 13 Jahre alt. Während ihre Freundin fließend Englisch spricht, ist sie schüchtern und eher in sich gekehrt. Die Geschichte, die hinter der Anwesenheit beider in Gießen im April/Mai 2022 steckt, gleicht einem Wunder.

Beide sind durch den Sport in der ukrainischen 260 000-Einwohner-Stadt Sumy befreundet, verlassen mit ihren Familien unabhängig voneinander im Frühjahr 2022 kriegsbedingt ihre Heimat und finden sich ohne gegenseitige Kenntnis in Mittelhessen wieder. Während Kobzar in Bad Salzhausen bei einer deutschen Familie untergebracht ist, lebt Khilko in Nidda. Nun sind beide in Gießen wieder vereint. »Das ist eine ganz tolle Überraschung gewesen«, sagt die Ältere der beiden.

Am Leben in Deutschland hat Oleksandra Kobzar Gefallen gefunden: »Wir würden sehr gerne hier bleiben.« Mit ihrer Mutter und ihrem Bruder ging es mit dem Auto nach Rumänien, von dort aus mit dem Bus nach Deutschland.

»Seit ich ein kleines Kind bin, habe ich davon geträumt, nach Deutschland zu kommen. Jetzt sind wir hier. Wenn es eine Möglichkeit gibt, hier zu bleiben, müssen wir diese Chance nutzen. Mein Vater sagt mir: Sorgt euch nicht um mich, schaut, dass es euch gut geht. Für uns ist es ohne Papa in der Familie natürlich hart. Keiner weiß, wie lange der Krieg noch andauern wird«, erzählt die 18-Jährige auf Englisch.

»Wir sprechen jeden Tag über die Situation. Unser Vater vermisst uns so sehr. Er versucht uns zu beruhigen, wenn wir jeden Tag miteinander telefonieren. Ich bin sehr besorgt. In der Stadt, in der er sich gerade aufhält, sterben täglich Menschen. Aber er ist sehr froh darüber, dass wir hier sind.«

Deutschland sei »ein tolles Land. Ich finde es klasse, dass es hier in Gießen eine Universität gibt.« Nicole Gouriya als Trainerin der TSG Blau-Gold Gießen meint: »Ich würde es cool finden, wenn sie hier bleiben. Da könnten sie uns gut ergänzen. Es ist eine Win-win-Situation für uns alle. Sie lernen von uns, wir von ihnen.«

Kurs-Teilnehmerin Pia Maier aus Solms sagt: »Die beiden können uns einiges zeigen. Man merkt, dass sie Profis sind. Es ist schön, dass sie da sind.«

Der Sport als Integrationstreiber? »Das kann ich zu 100 Prozent unterschreiben«, sagt die 24-jährige Nicole Gouriya, die seit ihrem 15. Lebensjahr Übungsleiterin ist. »Du hast Mitgefühl und teilst die gleiche Leidenschaft.«

Dass die TSG Blau-Gold Gießen neben den beiden Freundinnen 14 weitere Geflüchtete, ob im Judo, Turnen oder Breakdance, beitragsfrei aufgenommen und integriert hat, überrascht nicht.

Über 70 Nationalitäten finden sich unter dem TSG-Dach zusammen. »Für uns war es schon immer selbstverständlich, offen zu sein. Hier tanzt der Moslem mit dem Juden, hier turnt jeder, egal mit welchen sexuellen Vorlieben. Das ist mir alles vollkommen egal. Bei uns gibt es nur den Sportler bzw. die Sportlerin«, erklärt Vorsitzender Bernhard Zirkler.

Nicole Gouriya schwärmt vom Klima beim Mehrspartenverein: »Die TSG ist der Grund, warum ich nicht aus Gießen ausziehen möchte. Ja, so sehr mag ich diesen Verein. Ich habe hier die besten Freunde gefunden. Wir verstehen uns mit so vielen verschiedenen Nationen einfach super.«

Dem über 2000 Mitglieder fassenden Verein mit breitem Repertoire von Ballett, Faszientraining oder Kickboxen hatte schon in der Flüchtlingswelle 2015 eine Versicherung für Nichtmitglieder beim Landessportbund Hessen abgeschlossen.

Zudem wird der Beitrag erstattet, für die ambitionierten Athleten die Teilnahme an Meisterschaften finanziert: Hotel, Fahrtkosten, Teilnahmegebür.

Zirkler erwarb darüber hinaus in den letzten Wochen sogar gesonderte sportliche Ausstattung für die Ukrainerinnen: »Sie brauchen individuelle Ringe oder einfach auch ein ordentliches Outfit für den Wettkampf. Wir wissen nicht, wie lange sie bleiben. Aber ich habe keine Probleme damit, wenn sie lange bleiben. Sie sind unsere Gäste, die wir willkommen heißen.«

Für Trainerin Gouriya zähle vor allem eines: »Ich möchte ihnen dabei helfen, durch den Sport auf andere Gedanken zu kommen.« Zirkler: »Als das erste Lächeln zu sehen war, wussten wir, dass wir auf dem richtigen Weg sind.«

Bis auf den Samstag sind Oleksandra Kobzar und Anastasia Khilko täglich bei der TSG aktiv, nehmen dafür jeweils rund eineinhalb Stunden Zugfahrt auf sich. »Ich bin sehr froh über diese Möglichkeit«, sagt Kobzar. »Ich kann mir ein Leben ohne Sport nicht vorstellen.« Ihr größtes Ziel: »Olympiasiegerin. Seit ich zwei Jahre alt bin, mache ich Gymnastik.«

Die 18-Jährige, deren Eltern vor dem Kriegsausbruch als Autohändler und Hairstylistin arbeiteten, verbringt ihren Tag wie folgt: »Am Morgen mache ich meine Übungen, dann lerne ich vier Stunden Deutsch. Danach gehe ich zum Training, abends helfe ich meiner Mutter.«

Angesprochen auf ihr Lernpensum und die deutsche Sprache, antwortet sie: »Ich würde wirklich gerne hier bleiben.«

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Die befreundeten Sportlerinnen finden sich nach der Flucht zufällig in Gießen wieder. FRIEDRICH © Harald Friedrich
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