Wenn der Schulsport drittrangig wird

Der Ausfall der Sporthallen von Liebigschule und Theodor-Litt-Schule stellt nur die Spitze des Eisberges dar: Gießens Schulen klagen über einen erheblichen Sanierungsstau. Wie gehen Schüler und Lehrer damit um? Und: Ist der Sportunterricht für die Gießener Stadtpolitik schlicht ein nettes Add-On?
Gießens Partnerschule des Sports feierte am 5. März 2023 ein trauriges Jubiläum: Seit vier Jahren hat die Liebigschule keine nutzbare Sporthalle. Gießens größte Schule mit weit über 2000 Zugehörigen, die Theo-Litt-Schule, muss seit bald zweieinhalb Jahren ohne eigene Sporthalle auskommen.
Land ein, Land aus wird der Bewegungsmangel von Kindern beklagt - in Gießens städtischen Schulen wird nicht einmal der Lehrplan im Schulfach Sport konsequent umgesetzt. Ein offensichtlicher Widerspruch, der Anlass für diesen Hintergrundbericht ist.
Die jahrelangen Ausfälle der Sporthallen von Liebigschule und Theo-Litt-Schule sind nur die Spitze des Eisberges - in nahezu jeder städtischen Schule werden fehlende Hallenkapazitäten beklagt, wie unsere Umfrage ergibt.
»Die Sportstättensituation in Gießen ist nicht gut«, sagt der Leiter der Liebigschule, Dirk Hölscher. »Der Sanierungsstau hätte schon in den letzten Jahrzehnten peu à peu angegangen werden müssen.« Marcus Krapp, Lehrertrainer an der »Lio«, sagt: »Vom Schulamt oder der Politik scheint es kein Interesse daran zu geben, dass der Lehrplan umgesetzt wird. Das ist ein Schulfach. Die Schülerinnen und Schüler haben ein Recht darauf. Turnen etwa wird seit Jahren kaum bis gar nicht gelehrt.«
Wibke Engelhardt, Sportlehrerin an der Theodor-Litt, sagt: »Wir sind beeindruckt, wie gut alle Beteiligten die Situation mittragen und seit Jahren Sport an der frischen Luft treiben. Aber ganz ehrlich: Diese Generation kann die Politik nicht mehr ernst nehmen.«
Viele städtische Hallen sind durch den gleichzeitigen Bau in den 70er-Jahren und mangelnde Erhaltungs- bzw. Sanierungsmaßnahmen »in die Jahre« gekommen. Das jahrzehntelange Warten fällt der Politik nun vor die Füße.
Renovierungen wären, um nur fünf Beispiele zu nennen, notwendig an der Osthalle, der Herderschule, der Ludwig-Uhland-Schule, dem Landgraf-Ludwig-Gymnasium oder der Georg-Büchner-Schule.
»Das ist kein neues Problem. Ich bin jetzt seit 32 Jahren an der Max-Weber-Schule«, sagt Klaus-Uwe Schmidt, stellvertretender Schulleiter. »Kurz vor den Wahlen gibt es mal Diskussionsrunden mit bedrucktem Papier. Danach hört man wieder nichts mehr.«
Wer die Meinungen in Gießens Schullandschaft zusammenfasst, kommt zum Schluss: Es bräuchte mindestens eine komplett neu geschaffene Halle über die aktuellen Pläne hinaus. Konfrontiert mit den Aussagen verweisen Oberbürgemeister Frank-Tilo Becher und Stadträtin Astrid Eibelshäuser vornehmlich auf den Bestand von 26 Hallen, die von Schulen genutzt werden und den Umstand der fehlenden finanziellen Mittel.
»Wir haben immer mehr Schülerinnen und Schüler - alle 13 Grundschulen haben ganztägige Angebote. Das sorgt für einen größeren Bedarf an Hallenzeiten«, sagt Schuldezernentin Astrid Eibelshäuser. »Der Investitionsbedarf im pädagogischen Bereich ist hoch. Wir können dem nicht vollends gerecht werden. Wir bräuchten ein anderes Investitionsvolumen.«
»Alles damit zu beantworten, dass kein Geld da ist, ist ein Totschlagargument«, sagt Schmidt von der Max-Weber-Schule. »Die Frage ist, ob ein Anfang gemacht wird.«
Dass die heimischen Sportlehrer mit den Gegebenheiten hadern, aber zurechtkommen, wird in den Gesprächen deutlich: »Wir kriegen es irgendwie hin. Die Frage ist, ob es das ist, was wir unseren Kindern vermitteln wollen: Wenn es um Sport geht, dann geht’s schon irgendwie!«, sagt Krapp.
Die Liebigschule weicht seit Jahren auf die Leichtbauhalle mit Tartanboden am Gelände des MTV 1846 Gießen aus - umgezogen wird sich zuweilen noch in der Schule. Auch auf die Albert-Schweitzer-Schule und den Sport Point wird im Sportunterricht zurückgegriffen. Krapp: »Die Liebigschule ist eines der wenigen regionalen Talentzentren in Hessen und hat einen Sonderauftrag. Dem können wir seit Jahren nicht gerecht werden.«
Das Ausweichen auf das MTV-Gelände sei eine »Notlösung«, wie Schulleiter Hölscher anmerkt. »Anderer Boden mit höherer Verletzungsgefahr, Zeitverlust, weniger Basketballkörbe, keine gemeinsame Anlaufstelle«, nennt Krapp vier Beispiele.
Zwölftklässlerin Anna Sidorenko von der »Lio« erklärt den Mehraufwand der eigenständigen Anreise: »Zur Albert-Schweitzer-Schule mussten wir immer selbst anreisen, empfohlen wurde das mit dem Bus. Ich kam dann entweder zu spät oder hatte im Grunde keine Mittagspause. Deswegen bin ich mit dem Fahrrad 15 Minuten zur anderen Halle gefahren. Wir haben einfach insgesamt weniger Sportunterricht, Turnen ist eigentlich gar nicht möglich. Für mich ist das noch okay, aber ich denke an die jüngeren Jahrgänge.«
Dass Lehrpläne nur begrenzt umgesetzt werden, bestätigt auch Schmidt von der Max-Weber-Schule: »Sport ist ein Pflichtfach. Im ersten Lehrjahr ziehen wir das Sportprogramm noch voll durch, im zweiten Lehrjahr zu 50 Prozent und im dritten entfällt es schlicht. Als Sportlehrer muss man sich oft rechtfertigen, ob der Unterricht denn nötig sei.«
Sport ein nettes Add-On, vor allem in Gießen? Der seit etwas mehr als einem Jahr in Amt und Würden stehende Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher widerspricht dem deutlich: »Ich sehe das überhaupt nicht so. Wenn es nach mir geht, gehört zu jedem Schultag Bewegung!«
So mancher zweifelt am Umsetzungswillen dieser Aussagen. Krapp: »Es geht um so viele Faktoren, die der Sport abdeckt. Die Bewegungszeit der Kinder nimmt ohnehin ab. Da sollten wir doch wenigstens die Grundversorgung gewährleisten. Die Politik sendet in Gießen das Signal aus: ‘Ist ja nur Sport!’ Das übernehmen die Kinder - und dann bekommen wir die Fälle, die das Krankensystem belasten.«
Während der geplante Investoren-Neubau einer Sporthalle an der Liebigschule mit Kosten von deutlich über 20 Millionen Euro zum Beginn des Schuljahres 2026/27 abgeschlossen sein soll - noch ist kein Abriss erfolgt - hofft man an der Theodor-Litt-Schule auf eine Rückkehr in die Halle noch in diesem Jahr.
Jeweils aufgetretene Mängel an Statik bzw. Dachkonstruktion sorgten für eine kurzfristig notwendige Schließung mit längeren Folgen. Der Schulleiter der Theo-Litt-Schule, Michael Brumhard, bringt es auf den Punkt: »Als wir vor vier Jahren den Förderbescheid für die Sanierung bekommen haben und dann die Mängel entdeckt wurden, nahm das Unheil seinen Lauf...«
Wie das Kollegium mit der Situation umgehe, erfülle ihn mit Stolz. »Die Schwanenteichrunde ist fest eingelaufen, der Blau-Weiß-Sportplatz wird ausgiebig genutzt«, sagt Lehrerin Wiebke Engelhardt. »Wenn es von der Logistik an den Randstunden machbar ist, gehen wir ins Fitnessstudio im Neustädter Tor. Wir fahren mal Kanu, nutzen die Mountainbikes, haben Yoga oder Kinetik in der Aula gemacht, Lacrosse, Roundnet oder Ultimate Frisbee ausprobiert und die Aula zur Tischtennisarena umgebaut.« Bei der Rückkehr in die Halle freue sie sich auf »einen geregelten Unterrichtsablauf und weniger logistische Herausforderungen«. Ein gewisser Pragmatismus mit Hang zur Hinnahme hat unter Gießens Sportlehrern eingesetzt. Marcus Krapp: »Wir alle sehen, dass es irgendwie geht. Es geht immer irgendwie. Aber ist das unser Anspruch in Deutschland?«
Herderschule
»Die Sporthalle A der Herderschule befindet sich in einem allgemein sehr schlechten Zustand. Eine Komplettsanierung ist unumgänglich. In Bezug auf die Situation der Schulsportstätten in Gießen kann man mit den der Herderschule derzeit zur Verfügung stehenden Sportstätten aber zufrieden sein. Wir können zwei Sporthallen, das Weststadion sowie das Westbad nutzen.«
Schulleiter Stefan Tross
Landgraf-Ludwig-Gymnasium
»Laut Auskunft der Stadt sollen die Planungen für den Bau der zweiten Halle in Kürze wieder aufgenommen werden. Die derzeitigen Hallenkapazitäten reichen schon jetzt nicht aus, um die Sportstunden abzudecken. In unserer Ausweichstätte der Georg-Büchner-Schule herrscht erheblicher Sanierungsstau. Die Errichtung der zweiten Halle ist von enormer Bedeutung.«
Schull. Annette Pfannmüller
Ricarda-Huch-Schule
»Unsere drei schuleigenen Hallen wurden ca. in den 1960er-Jahren errichtet und sind in entsprechendem Zustand. Die Kapazitäten reichen nicht aus. Eine Modernisierung ist zwingend notwendig. Bei der Nutzung externer Sportstätten müssen wir lange Unterrichtswege einkalkulieren. Wir kooperieren mit umliegenden Vereinen und versuchen kreativ und engagiert zu bleiben.«
Schulleiter Peer Güßfeld

