Viele erlösende Momente

Die Handball-Formkurve der HSG Wetzlar zeigt nach oben. Die zuletzt erspielten 5:1 Punkte sorgen vor der Länderspiel-Pause für Erlösung und Beruhigung.
Als die letzten grün-weißen Anhänger die Arena verlassen hatten, die Aufräumarbeiten fast beendet waren und die Security zum größten Teil bereits Feierabend gemacht hatte, saßen die Bundesliga-Handballer der HSG Wetzlar noch im VIP-Bereich beisammen. Mit Ehefrauen, Partnern, Freunden und Bekannten - vollkommen relaxed, die Füße ausgestreckt, die Arme locker über der Stuhllehne hängend. Der erste Heimsieg der Umbruch-Saison 2022/23 lag bereits eineinhalb Stunden zurück, Freude und Erleichterung über das deutliche 32:24 (15:11) gegen den TVB Stuttgart waren aber noch ebenso spürbar wie direkt nach dem Abpfiff bei der endlich wieder praktizierten Sieger-»Humba« mit den Anhängen auf den Stehtribünen.
Die vielen erlösenden Momente der Partie gegen die Schwaben, ob die zehn Paraden von Till Klimpke oder die 100-Prozent-Abschlussquote vom sieben Mal erfolgreichen Kreisläufer Erik Schmidt (»Wir waren einen Tick ausgeruhter, einen Tick frischer. Das hat man gemerkt«), hatten auch Trainer Benjamin Matschke die Mühen der letzten Wochen bestätigen lassen: »Nach 0:8 Punkten war es nicht einfach, die nächsten Spiele zu gestalten. Der Druck hätte nicht größer sein können. Man sieht jetzt eine deutliche Entwicklung. Die 5:1 hat super funktioniert, wir wollten unbedingt Tempo spielen und einfache Tore über schnelle Gegenstöße und schnelle Mitte machen. Das hat auch gut geklappt.«
Einziger Wermutstropfen an diesem Donnerstagabend, nach dem sich die Tabelle als Rangelfter mit 5:9 Punkten schon wieder viel beruhigter betrachten lässt, waren die erneut spärlich besetzen Arena-Ränge. Mehr als 2000 Zuschauer dürften es abermals nicht gewesen sein, wodurch man im Zuschauer-Ranking der Liga im unteren Drittel angesiedelt ist und sich die Verantwortlichen in der nun folgenden Länderspiel-Pause Gedanken über die Ursachen machen und nach Maßnahmen suchen können.
In zehn Tagen steht das DHB-Pokal-Match in Dutenhofen gegen Zweitligist HBW Balingen/Weilstetten an, dann folgt direkt das Hessenderby bei der MT Melsungen, ehe es am 30. Oktober in der Buderus-Arena gegen die SG Flensburg/Handewitt geht. Sonntagmittag um 14 Uhr das Topspiel der Liga, zu dem der Vorverkauf - wie zu hören ist - glänzend angelaufen ist. Eine Wende zum Positiven also auch auf den Rängen?
Mit einer 71-prozentigen Trefferquote, 64 Prozent erfolgreicher Angriffe und Torgefahr von allen Positionen trotz zweier vergebener Siebenmeter von Lars Weissgerber, der »DKB-Spieler des Monats September« wurde, haben die Mittelhessen selbst ohne den verletzt zuschauenden Kapitän Adam Nyfjäll Werbung in eigener Sache machen können. Der langsam wieder in die Spur findende Spielmacher Magnus Fredriksen ergänzte: »Diesmal hatten wir viel weniger technische Fehler und auch keine schlechte Periode in der zweiten Halbzeit.«
Selbst die Phase zwischen der 40. und 50. Minute, in der die Stuttgarter von 15:22 auf 20:24 herankamen, war eher »semikritisch«, auch wenn HSG-Coach Matschke früh zur Auszeit bat: »Die 6:0 war gedacht, um Kräfte zu sparen«, erklärte er später, »ich habe aber schon an die Konzentration der Spieler appelliert, Stuttgart nicht noch einmal ins Spiel kommen zu lassen.«
Tat sein Team vom im Rückraum explodieren Vladan Lipovina, über den gegen TVB-Kreisläufer Oscar Bergendahl herausragend arbeitenden Innenblock Schmidt/Rubin bis hin zum mit einer Pferdelunge ausgestatteten Emil Mellegard aber nicht. Beim Lipovina-26:20 (51.) war die Sache geritzt, beim Schmidt-29:21 (55.) sogar ein Zehn-Tore-Sieg möglich.
Auch über einen solchen hätten sich die Gäste nicht beschweren können, wie Interimscoach Michael Schweikardt zwischen seinen Worten einräumte: »Wir hatten von Beginn an in der Offensive Probleme, gegen die starke Wetzlarer 5:1-Abwehr Lösungen zu finden. Die haben wir nicht gut bespielt.« Sein Arbeitgeber wird in den nächsten Tagen erst einmal über seine Zukunft zu entscheiden haben, ob er dauerhaft die Nachfolge von Roi Sanchez antritt; dann wird sich Schweikardt daran machen können, die am Donnerstag lahm gelegten Zieker, Lönn und Co. wieder flott zu bekommen.
Den Wetzlarer Profis wird vor ihrer Abreise zu den Nationalteams das Siegermenü am späten Abend besonders gemundet haben. Nach den erfolglosen Heimpartien zuvor gegen die Füchse Berlin, den VfL Gummersbach und Frisch Auf Göppingen hatten sie verständlicherweise kaum einen Bissen runterbekommen. Diesmal hatten sie erst den Kontrahenten auf dem Parkett mit 32:24 vernascht, sich dann den siegessüßen Nachtisch schmecken lassen dürfen.