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Lisa Mayer privat: »Du solltest nicht wegrennen«

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Von: Sven Nordmann

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Vom Mädchen, das sich immer hinter Mama versteckt hat, zu einem sportlichen Gesicht Hessens: Top-Sprinterin Lisa Mayer, in Gießen geboren, erklärt, »wie der Sport mir geholfen hat, wachzurütteln, was in mir steckt«.

Frau Mayer, Sie haben in einem früheren Interview gesagt, dass Sie mit zwölf Jahren ein »kleines, graues Mäuschen« gewesen sind und der Sport aus Ihnen eine »selbstbewusste Frau« gemacht hat. Wie waren Sie in jungen Jahren wirklich?

Lisa Mayer (22 Jahre alt, Sprintteam Wetzlar): Wenn mich jemand angesprochen hatte, war ich immer diejenige, die sich hinter der Mama versteckt hat. Als ich mit 13 Jahren in das E-Kader-Training nach Wettenberg kam, war alleine die Fahrt dorthin jedes mal aufs Neue ein Kampf. Weil ich weder andere Kinder, noch den Trainer kannte, wollte ich dort eigentlich gar nicht hin. Ich habe mich geziert und dachte mir: Man ist da ja so alleine... Ich war als Kind extrem zurückhaltend.

Wundern Sie sich jetzt im Nachhinein darüber, dass Sie so schüchtern waren?

Mayer: Im Nachhinein, jetzt wo man reifer und erwachsener ist, denkt man sich: Wieso warst du so? Aber es gibt solche und solche Kinder. Es war ja auch okay, dass ich schüchtern war. Der Sport hat definitiv dafür gesorgt, dass ich mich da in eine sehr positive Richtung entwickelt habe.

Wichtig war, dass ich es einfach gemacht habe, obwohl ich eine gewisse Scheu davor hatte

Lisa Mayer

Ist diese Entwicklung durch den Sport hin zu einer offeneren, selbstbewussten Frau unterbewusst oder ganz bewusst abgelaufen?

Mayer: Es war eher eine unterbewusste Entwicklung, die ich gar nicht direkt wahrgenommen habe. Das kam mit dem Übergang zu den internationalen Wettkämpfen. Was sich da genau bei mir abgespielt hat, kann ich schwer sagen, aber plötzlich war es kein Problem mehr, neue Menschen kennenzulernen und mit anderen Trainern zusammenzuarbeiten.

Was vermuten Sie, hat für diese Veränderung gesorgt?

Mayer: Ich glaube, ein Hauptgrund war, dass meine Mutter nicht gesagt hat: Na gut, dann gehen wir eben nicht ins E-Kader-Training. Wichtig war, dass ich es einfach gemacht habe, obwohl ich eine gewisse Scheu davor hatte. Meine Mutter hat dafür gesorgt, dass ich mit dieser Situation konfrontiert wurde, ohne, dass ich jetzt gequält wurde oder so etwas. Im Laufe eines Sportlerlebens kommst du immer wieder in Situationen, bei denen du im ersten Moment am liebsten weglaufen würdest. Der ständige Kontakt mit fremden Menschen, vor diesen auch zu zeigen, dass man manches nicht kann, das hat bei meiner Entwicklung eine große Rolle gespielt.

Inwiefern hat es auch eine Rolle gespielt, dass Sie als junge, erfolgreiche und attraktive Sprinterin dann häufig in der Öffentlichkeit standen?

Mayer: Das größere Interesse der Medien kam erst mit 18, 19 Jahren. Ich glaube, dass bei mir vorher schon ein Umdenken stattgefunden hat. Der Sport hat den Stein ins Rollen gebracht. Aber natürlich hat dieses In-der-Öffentlichkeit-stehen dem Ganzen nochmal eine neue Ebene gegeben. Ich würde gerne irgendwann in den Journalismus wechseln, vielleicht als TV-Moderatorin arbeiten. Das ist ja dann nochmal eine ganz andere Ebene im Vergleich zu dem schüchternen Mädchen, das ich einmal war.

Schwächen sind völlig okay und gehören dazu. Man kann ja daran arbeiten

Lisa Mayer

Viele Menschen würde es verwundern, wenn eine Lisa Mayer nicht selbstbewusst ist. Sie sind eine der Top-Sprinterinnen Deutschlands, haben eine Traumfigur.

Mayer: Trotzdem hatte ich in der Jugend auch schwierige Phasen, als ich in der Leichtathletik beim Wurf zum Beispiel wirklich schlecht war. Durch den Sport lernt man, was seine Stärken sind. Das ist unglaublich wichtig. Ich denke, dass es da egal ist, ob das auf allerhöchstem Niveau ist wie bei mir, oder es auf einem soliden Niveau stattfindet. Der Sport hilft dir, damit umzugehen, dass man Stärken und Schwächen hat und dass Schwächen völlig okay sind. Sie gehören dazu und man kann ja daran arbeiten.

Als ambitionierte Sportlerin muss man auch lernen, mit Kritik umzugehen und sich mit sich selbst zu beschäftigen.

Mayer: Definitiv. Das habe ich besonders in meiner Verletzungszeit mitbekommen, wo ich mich in extremster Weise hinterfragt habe.

Man muss verstehen, dass Kritik eine Chance ist und helfen soll

Lisa Mayer

Inwiefern stört es Sie, wenn Sie von anderen hinterfragt werden?

Mayer: Die Kritikfähigkeit begleitet mich tagtäglich im Training. Als ich im Februar 2018 in Karlsruhe mit 7,12 Sekunden über die 60 Meter Hessenrekord gelaufen bin, weiß ich noch, dass ich an dem Abend auf Wolke sieben war. Ich hatte mir diese Zeit in dem Moment selbst nicht zugetraut, das war Wahnsinn. Am nächsten Morgen komme ich ins Training und mein Trainer zeigt mir den aufgenommenen Lauf auf dem Tablett. Er sagte mir: Das war schlecht, das war schlecht, den Zug hättest du weiter ziehen müssen, da bist du zu hoch gewesen. Man steht da und denkt sich: Gestern bin ich 7,12 gelaufen und heute sagst du mir, dass der Lauf Scheiße war? Wenn man sich verbessern will, muss man als Leistungssportlerin lernen, damit umzugehen. Diese Kritikfähigkeit ist auch für das spätere Leben in viele Bereiche übertragbar und enorm wichtig. Man muss verstehen, dass Kritik eine Chance ist und helfen soll.

Sie sagten einmal, dass Verletzungen sehr charakterbildend sein können. Die Heim-EM 2018 in Berlin haben Sie aufgrund einer Oberschenkelverletzung verpasst. Inwiefern waren schwierige Zeiten für Sie charakterbildend?

Mayer: Man wird mehr oder weniger dazu gezwungen, zu schauen: Wer bin ich, was will ich? Was sind wirklich meine Ziele und Träume und was bin ich bereit, dafür zu geben? Man hat Zeit, vieles zu reflektieren: War ich ein Mensch, der immer ungeduldig war? Dabei ist Geduld das A und O, man kann nichts erzwingen. Entweder der Körper ist bereit oder er ist nicht bereit. Ich habe durch die Verletzung neue Eigenschaften an mir kennengelernt.

Sind Sie also gestärkt aus Ihrer Verletzung hervorgekommen?

Mayer: Davon bin ich überzeugt. Man kann aus Verletzungen stärker zurückkommen. Aber man muss auch offen sein, sich darauf einlassen und wissen, dass es nicht einfach ist, dass es Zeiten gibt, wo du dich am liebsten verkriechst. Trotzdem muss man dranbleiben und den Optimismus auspacken.

Zählt das Nutzen von schweren Zeiten und das Umwandeln in Motivation zu den großen Erfolgsformeln?

Mayer: Definitiv. Ich habe durch meine Verletzung damals zwar eine Heim-EM verloren, aber dadurch auch so viel mehr gewonnen, als mir der größte Sieg je hätte geben können. Weil ich einfach viel, viel mehr über mich lernen und nachdenken konnte. Das macht man, wenn man erfolgreich ist, nicht so. Deswegen bin ich, so komisch es klingen mag, sehr dankbar dafür, diese Chance bekommen zu haben.

Abschließend: Aus welchen Gesichtspunkten, unabhängig vom bekannten Gesundheitsfaktor, ist es aus Ihrer Sicht wichtig, dass junge Menschen Sport treiben?

Mayer: Man lernt, dass man für Dinge, die man erreichen möchte, auch etwas tun muss. Training ist nicht immer schön. Bevor man Siege feiert, muss man schwitzen und im übertragenen Sinne bluten. Der Sport kann jungen Menschen dahingehend sehr helfen, zu verstehen, dass man nicht immer gleich wegrennen darf, wenn es mal unangenehm wird. Da ist mein eigenes Beispiel mit dem E-Kader in jungen Jahren im Grunde das beste. Der Sport hat mir geholfen, wachzurütteln, was in mir steckt. Und man kann sich immer wieder daran erinnern: Was sind meine Stärken, was kann ich gut? Da ist es egal, ob man die Sprintfähigkeit auf Kreismeisterschafts-Ebene testet oder ob man sich mit den Besten der Welt misst.

Kurzportrait

Das ist Lisa Mayer

Geburtstag: 2. Mai 1996 Geburtsort: Gießen Ausbildung: Abgeschlossenes Studium in Germanistik und Geografie Aktueller Verein: Sprintteam Wetzlar Größte sportliche Erfolge: Silber DM 2016 (100 und 200 m), Vierter Olympia 2016 (Staffel 4x100 m)

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