Kommentar von Sven Nordmann: Wie Medien mit der Wut spielen und sie fördern

Sven Nordmann nimmt Stellung und meint: Klickzahlen und Quoten sind in der deutschen Medienlandschaft wichtiger geworden als seriöser Journalismus.
Die von den Medien auf mittlerweile übliche Art und Weise hochgejazzte Affäre um Julian Nagelsmanns Schiedsrichterbeleidigungen hat mich erneut daran erinnert: Klickzahlen und Quoten sind in der deutschen Medienlandschaft wichtiger geworden als seriöser Journalismus.
Die Sensations-Gier unter dem Volk wird gekitzelt. Die Synapsen im Kopf der Leser brennen immer schneller ab - um für Aufmerksamkeit zu sorgen, braucht es immer größere, immer schnellere Skandale und Dramen.
»Schiri-Boss geht auf Nagelsmann los!« / »Selbst Schuld, Herr Nagelsmann!« / Nagelsmanns Wut-Explosion!« - nur drei Überschriften der »Bild«-Zeitung Anfang dieser Woche. Wut, Wut, Wut.
Wo kommt sie nur her? Und wie bahnt sie sich in unserer Gesellschaft ihren Weg? Immer öfter fallen mir im Netz aufgebauschte Geschichten mit minimaler Bedeutung auf. Aufgestauter Frust, der von Journalisten frohlockend gefördert wird. Vorwürfe, Katastrophen, Schande. Ist das die Welt, in der wir leben wollen?
Wir nehmen die Welt immer durch unsere eigene Brille wahr. Unser Fokus entscheidet, was wir wahrnehmen. Entsprechend fühle ich mich anders, wenn ich einen seichten Romantik-Film gesehen oder eine actiongeladene Horror-Serie angeschaut habe. Konzentriere ich mich auf die erfreulichen Ereignisse im Leben? Oder auf die »schlimmen Sachen«?
Wie viel Aufsehen würden »Gießens gute Nachrichten« tagtäglich hervorrufen? Und wie viele Klicks bekommt der nächste Messerstecher?
Nach zehn Jahren im Journalismus kann ich getrost und aus voller Überzeugung sagen: Katastrophen-Nachrichten werden häufiger geklickt - und lassen sich leichter zu einer Meldung mit Aufsehen produzieren. Mit der Haltung, das Positive hervorzuheben, ist man im heutigen Medienland zunehmend in der Minderheit.
Anfang dieser Woche scrolle ich auf der Homepage der »Bild« und lese diese Beispiele. 1. »Zuschauer genervt von DAZN!« - der Streamingdienst hatte seine Hintergrundmusik während der Live-Übertragungen geändert. Darüber echauffierten sich - wie immer im Internet - viele Abonnenten. Die Zeitung griff das wiederum auf, um eine große Geschichte daraus zu machen - Skandal! Unten im Text steht dann: »Fairerweise muss erwähnt werden, dass es bei nahezu jeder Hintergrundmusik kritische Stimmen gibt.« Ach so. Gut zu wissen. Trotzdem scheiße, diese neue Hintergrundmusik! Mann!
2. »Das ist eigentlich verboten! Polizei-Ärger um Bayerns Mannschaftsbusse!« - Die Busse des Rekordmeisters wurden nach der Bundesliga-Niederlage in Gladbach letzten Samstag »unerlaubt durch eine Rettungsgasse eskortiert. ... Die Polizei räumt den Fehler ein.« Der Fall werde nun bei der Polizei Mönchengladbach »intern aufgearbeitet« - zum Glück ey! Echt eine Sauerei, dass die Profis mal wieder bevorzugt wurden!
3. »Wegen Taxi-Flug: Neuer Ärger für Klopp!« - Um Regenerationszeit zu gewinnen, flog der von Jürgen Klopp trainierte FC Liverpool am letzten Samstag nach dem Sieg bei Newcastle United die 233 Kilometer lange Strecke zurück, statt sie mit Bus oder Zug zurückzulegen: 33 Minuten statt geschätzten drei Stunden. Half auch nix: Am Dienstagabend verlor Liverpool im Champions-League-Achtelfinale mit 2:5 gegen Real Madrid. Viele Fans hatten »kein Verständnis«. Die Zeitung räumt ein: »Allerdings ist das Vorgehen der Reds kein Einzelfall, kurze Flüge gehören für viele professionelle Vereine zur Regel.« Ach so. Ja, warum sagt ihr das denn nicht gleich? Dann kann ich wenigstens auf den gesamten Fußball sauer sein!
Nun könnten Sie einwenden: Die »Bild«-Zeitung... wirklich, Herr Nordmann? Nun, ich habe mich lediglich an der mit 1,2 Millionen abgesetzten Tages-Exemplaren auflagenstärksten deutschen Tageszeitung orientiert. Es folgt die »Süddeutsche Zeitung« mit rund 300 000 Ausgaben. Meine Abschlussfrage: Wer morgens schon mit aufgeschäumter Wut vom Frühstückstisch aufsteht, der startet in einen Tag voller Frieden?