Kein »Weiter so!«

(sid/dpa). Für Emily Bölk ist die Sache klar. Angesichts der erschreckenden Vorwürfe psychischer Gewalt darf es ein »Weiter so!« im deutschen Frauen-Handball nicht geben. »Ich finde es extrem wichtig, dass diese Präsenz, die das Thema vor allem medial bekommen hat, genutzt wird, um eine Sensibilität zu schaffen«, sagte die Nationalmannschaftskapitänin und forderte eine »Kultur des Hinsehens«.
Vereine und Verbände »und auch der DHB« müssten Untersuchungen und Aufarbeitung durchführen, »um zu schauen, wie zukünftig solche Fälle frühzeitig und besser gelöst werden können«, sagte Bölk. Die Anschuldigungen von Mia Zschocke und Amelie Berger, zwei ihrer Mitspielerinnen, gegen den langjährigen Bundesliga- und Verbandstrainer André Fuhr hatten ein schweres Beben ausgelöst. Von Machtmissbrauch in übelster Form ist die Rede, der Spiegel schrieb von Psychoterror und Systemversagen.
Der Verband, der den beschuldigten Trainer bis Ende August drei Jahre lang auf Honorarbasis als U20-Nationalcoach beschäftigt hatte, reagierte und kündigte den Einsatz einer unabhängigen Expertenkommission an. Sie soll »in erster Linie aufklären, welche Verhältnisse und Strukturen zu sexualisierter und psychischer Gewalt führen können und welche Mittel und Wege es gibt, um dies in Zukunft besser zu verhindern und insbesondere junge Sportlerinnen in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken«.
Mit der Einrichtung der Kommission reagiert der Verband auch auf die zum Teil harsche Kritik an seinem eigenen Verhalten im Fall Fuhr. Der »Spiegel« hatte berichtet, dass zahlreiche Spielerinnen psychisch unter der Trainingsarbeit von Fuhr gelitten hätten. Mit ihrer fristlosen Kündigung bei Borussia Dortmund hatten die Nationalspielerinnen Mia Zschocke und Amelie Berger den Fall Mitte September öffentlich gemacht. Von Fuhrs Anwältin gab es auf Anfrage keine Stellungnahme zu den Vorwürfen.
Der BVB trennte sich von Fuhr, wies aber darauf hin, dass dies »ausdrücklich nicht mit einer Vorverurteilung verbunden« sei. Der 51-Jährige beendete zudem seine Tätigkeit beim DHB. Dem DHB war vorgeworfen worden, trotz der in der Szene schon lange kursierenden Vorwürfe nicht oder nur unzureichend gehandelt zu haben.
»Der Handballsport darf kein Spielfeld für Gewalt sein«, sagte DHB-Präsident Andreas Michelmann: »Wenn wir wollen, dass in Zukunft Eltern ihre Kinder guten Gewissens zum Sport bringen, müssen wir den vorliegenden Fall nutzten, um die Strukturen aufzudecken, die zu einer Kultur des Schweigens und Waberns im Reich der Gerüchte geführt haben.« Der DHB unterstütze die Einrichtung des bundesweiten Zentrums für Safe Sport als gemeinsame Initiative des Deutschen Olympischen Sportbundes, der Deutschen Sportjugend und des Bundesinnenministeriums.
Bölk betonte, dass es »sehr wichtig« sei, »dass externe Personen und Beratungsstellen involviert sind«. Und auch Zschocke unterstrich, »dass man eine externe, neutrale Person braucht, um Kritik zu äußern«.
Aus der Liga gibt es unterdessen schon einen konkreten Vorschlag, um ähnliche Fälle in Zukunft möglichst zu vermeiden. Peter Prior, Geschäftsführer des Buxtehuder SV, regte zur »Hilfe und Unterstützung für Trainer ein Coaching mit einem Psychologen« an.
Bölk hält den Vorstoß grundsätzlich für eine Idee, »die auf jeden Fall weiterverfolgt werden sollte. Der mentale Faktor spielt im Handball und generell im Sport eine extrem wichtige Rolle.« Für die betroffenen Spielerinnen wolle man als Nationalmannschaft »einen Safe Place« darstellen.
Mehr als 30 Personen haben sich mittlerweile mit Berichten über Handball-Trainer André Fuhr an die Beratungsstelle »Anlauf gegen Gewalt« gemeldet. »Wir können bestätigen, dass sich über 30 Personen im Zusammenhang mit diesem Fall an Anlauf gegen Gewalt gewandt haben. Darunter waren Betroffene und Umstehende, die entsprechende Vorfälle beobachtet haben«, wie Athleten Deutschland auf Anfrage mitteilte.
Am Montag hatte der Deutsche Handballbund in einer weiteren Stellungnahme mitgeteilt, dass die »in den vergangenen Tagen veröffentlichten Vorwürfe gegen den Handball-Trainer André Fuhr in keiner Weise im Einklang mit den Werten des Handballsports« stünden. »Der Deutsche Handballbund fühlt mit den betroffenen Spielerinnen und nimmt die Vorwürfe sehr ernst, hinterfragt das eigene Vorgehen kritisch und überprüft seine Prozesse«, hieß es.
»Die Betroffenheit bei uns und unseren Mitgliedern ist natürlich groß«, sagte der ehemalige Handball-Nationaltorhüter Andreas Thiel als Vorstandsvorsitzender der Handball-Bundesliga Frauen. »Wir müssen und werden gemeinsam mit ihnen aktiv daran arbeiten, das Wohl der Spielerinnen bestmöglich und dauerhaft zu schützen.«
Bundestrainer Markus Gaugisch hat das Ausmaß der Vorwürfe gegen den früheren Bundesligatrainer André Fuhr als »Schlag« für den Frauen-Handball bezeichnet. Es sei »natürlich nicht schön, solche Dinge über die eigene Sportart zu lesen«, sagte Gaugisch. Das Ausmaß der Vorwürfe habe ihn überrascht. »Mir waren systematische Dinge nicht bekannt«, sagte der 48-Jährige. In der Nationalmannschaft werde ein anderer Umgang gepflegt, betonte Gaugisch.