Fische, die nicht einmal schwimmen

»Ich kann von einem Fisch nicht verlangen, dass er springt«, hat Hrvoje Horvat, der neue Trainer der HSG Wetzlar, im Interview in dieser Woche einen Teil seiner Trainer-Philosophie erklärt. Beim 24:31- Debakel gegen die TSV Hannover-Burgdorf hat er Fische, die nicht einmal schwimmen können.
Am 4. April dieses Jahres ist es 25 Jahre her, dass die HSG Wetzlar alias HSG Dutenhofen/Münchholzhausen mit dem Zweitliga-Triumph beim EHV Aue den lange ersehnten Erstliga-Aufstieg realisierte. Ein historischer Tag. Am 1. April dieses Jahres steht das Bundesliga-Kellerduell in der Buderus-Arena gegen GWD Minden an. Seit dem Donnerstag-Desaster gegen die TSV Hannover-Burgdorf, als die HSG Wetzlar beim 24:31 eher wie 25 Jahre 2. Liga als ein 25-jähriger Erstligist auftrat, beschleicht einen das unangenehme Gefühl, auch das könnte ein historischer Tag werden… Oben im VIP-Raum und auf der Tribüne schlug sich mit Wolfgang »Wolle« Klimpke einer der 98er-Helden ob der handballerischen Ohnmacht der Grün-Weißen immer wieder die Hände vor das Gesicht.
Wenn es überhaupt etwas Positives - abgesehen vom ansehnlichen Spiel der Niedersachsen mit einem Trainer Christian Prokop, der vom 16:38-Debakel vor eineinhalb Jahren in Wetzlar bis zum aktuellen Bundesliga-Rang sieben sichtbar Herausragendes geleistet hat - anzumerken gab aus Sicht der Mannschaft von Neu-Trainer Hrvoje Horvat, dann waren es die Leistungen von Torhüter Till Klimpke, ohne den die Mittelhessen bereits zur Pause höher als mit 12:16 und somit hoffnungslos zurückgelegen hätten; und von Comebacker Stefan Cavor, nach acht Monaten Verletzungspause dem einzigen Wetzlarer Akteur mit wirklich Mumm in den Knochen. Über den Rest möchte man am liebsten schweigen, wenn dieser nicht selbst 60 Minuten nebst der Spielerbank wie eine Gruppe Taubstummer über das Parkett geschlichen wäre.
Keine Zweikampfhärte, Handball als kontaktloser Sport. Kaum Kommandos, weder im Innenblock noch von der Bank. Keine Laufwege im Gegenstoß, schlechtes Stellungsspiel. Und ein Rückzug, der jedes Kapitel in Cornelia Funkes Jugendbuch-
Bestseller »Wilde Hühner« hätte füllen können.
Beim 5:8 nach nicht einmal einer Viertelstunde hatte das Team bereits den Kopf verloren. Das 8:13 (20.) glich schon einem Offenbarungseid. Die Kritiken auf Social Media waren schon eine Stunde nach Spielschluss verheerend, vernichtend. Aber eine Arbeitsverweigerung, wie vorgehalten, war das nicht. Es fehlt einfach die Qualität oder derjenige, der sie findet und herausholt. Kurzum: Bei der HSG Wetzlar hat man in nur 18 Monaten das von Trainer-Ikone Kai Wandschneider gelegte Zehn-Jahres-Fundament in Trümmern gelegt. Da wird sich auch die Führungsriege um Aufsichtsrat Martin Bender, Geschäftsführer Björn Seipp und der Sportliche Leiter Jasmin Camdzic der Kritik stellen müssen.
Auch die personellen Sperenzien hier (überraschendes Fredriksen-Comeback) wie dort
(die TSV-Verletztenliste plötzlich halbiert) konnten nicht von den Leistungsunterschieden ablenken. Die Flügelzange Mellegard/Novak ließ sich vorne von TSV-Keeper Quenstedt »bluffen« und hinten beim Burgdorfer Abräumen vernaschen wie Feierabend-Kegler. Derweil Hannover bei jeder Aktion Aggressivität versprühte, wirkte das bei Wetzlar wie Kuscheln auf dem Sofa mit der Hauskatze.
In 6:4-Überzahl oder beim Spiel ›sieben gegen sechs‹ wurden weder Ball noch Gegner bewegt, weil man sich selbst nicht bewegte, und schloss dann auch noch gegen jedes Lehrbuch zentral aus dem Rückraum ab. Schlimmer noch, Erik Schmidt handelte sich trotz Überzahl eine Zeitstrafe ein. Vom baumlangen Hendrik Wagner wurde nicht ein (!) Wurf auf das Gästetor notiert, der Kreis spielte Verstecken auf dem Schulhof und der erste und einzige Gegenstoß wurde beim 18:21 nach 40 Minuten von Domen Novak registriert. Hätte Till Klimpke nach 41 Minuten nicht frei gegen Uladzislau Kulesh seine elfte Parade gezeigt, die Hoffnung auf eine Wende wäre schon weit früher als beim 20:26 (50.) gestorben. Aber da waren die ersten Zuschauer schon längst aus der Buderus-Arena geflüchtet.
Und selbst in dieser trostlosen, verfahrenen Situation gab es kein 3:3-Abwehr-Aufbäumen, ließen Bank und Mannschaft das Schicksal über sich ergehen. In einer Phase, in der ein Kai Wandschneider noch einen letzten Woher-auch-immer-Pfeil aus dem Köcher gezogen hätte. Überdies zeigten sich die Unparteiischen höchst gütig bei der Siebenmeter- und Offensivfoulbewertung, sonst wäre schnell gar eine Zehn-Tore-Niederlage zu konstatieren gewesen. Einer von vielen Zuschauern wandte sich schockiert vom Geschehen ab mit der Bemerkung: »Das kannst du eigentlich nur mit einer Flasche schweren spanischen Rotwein ertragen - pro Halbzeit!«
Aus der Nummer mit Ex-Trainer Benjamin Matschke, der eine Halbsaison lang von Wandschneiders Grundlagen zehrte, sich montags die Welt schönredete und rosarot malte, am fünften Arbeitstag im harten Bundesliga-Geschäft aber lieber Schüler in Baden-Württemberg unterrichtete, kommt man nach der 24/7-Zeit eines Kai Wandschneider aktuell schwer heraus.
Dass nun ausgerechnet Filip Kuzmanovski zur Rettung beitragen soll, dessen Verpflichtung die HSG Wetzlar gestern bestätigte, erscheint ebenso fragwürdig. Der 26-jährige Nordmazedonier ist ausgerechnet von dem Club nicht mehr für gut genug befunden worden, der die HSG Wetzlar - ohne den Wechselspieler - vorgeführt hat: TSV Hannover-Burgdorf. Das Einzige, was aktuell glänzt bei den Grün-Weißen, ist die Jubiläumschronik »25 Jahre Bundesliga« im Hochglanzformat. Nach dem 24:31-Desaster vom Donnerstag aber geht die Angst um, das keine weiteren Kapitel dazukommen. Die Jubiläumsschals gibt es schon im Angebot. FOTO: OV