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FC Gießen: Ohne Kader in den Sommer

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Von: Oliver Vogler

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_210605OVSTAFCG3065_2305_4c © Oliver Vogler

Während FSV Fernwald, SC Waldgirmes und Eintracht Stadtallendorf ihre Mannschaft für die Saison 2022/23 zu jeweils mindestens 80 Prozent gesichert haben, muss der FC Gießen ein komplett neues Team aus dem Boden stampfen - Ende Mai aus einem ohnehin umkämpften Markt, der komplexer wird.

Ende Mai 2022 zeichnet sich sportlich ein besorgniserregendes Bild rund um den FC Gießen ab: Während die lokalen Konkurrenten um Eintracht Stadtallendorf, FSV Fernwald und SC Waldgirmes ihren Kader für die kommende Saison 2022/23 jeweils zum Großteil fixiert haben, steht der FC zumindest offiziell ohne Spieler da und muss nun innerhalb kürzester Zeit einen kompletten Hessenliga-Kader zusammenstellen, der im Idealfall auch noch konkurrenzfähig ist. Gemäß Rahmenterminkalender startet die Saison am 30. bzw. 31. Juli.

Im Gespräch mit den führenden heimischen Trainern der aktuellen Hessenligisten, Dragan Sicaja (Stadtallendorf), Mario Schappert (Waldgirmes) und Daniyel Bulut (Fernwald) wird deutlich, wie ambitioniert dieses Unterfangen ist - und dass Qualitätsspieler mit regionalem Bezug zunehmend seltener zu finden sind.

»Es ist sehr schwierig geworden, regionale Spieler zu bekommen, mit denen du in der Hessenliga eine gewisse Qualität abdeckst«, sagt Bulut, der bereits 2010 in der Hessenliga coachte. Sein Kollege aus der Lahnaue, Mario Schappert, sagt: »Es wird von Jahr zu Jahr schwieriger. Beim Neuzugang sollte es ja auch menschlich passen. Du verbringst einen Hauptteil deiner Freizeit mit den Jungs, bist viermal in der Woche in der Kabine zusammen.«

Jetzt, sagt der 36-jährige Lehrer, »beginnt die heiße Phase, in der jeder versucht, die letzten Lücken im Kader zu schließen.« Die letzten Lücken? Beim FC Gießen muss eine komplett neue Mannschaft aus dem Boden gestampft werden - der Verbleib von Michael Fink ist an die weiterhin nicht geklärte Weiterbeschäftigung von Trainer Daniyel Cimen gekoppelt. Darüber hinaus gibt es keine verbriefte Gewissheit, dass Gießen mit weiteren Spielern für die angehende Saison verlässlich planen kann.

So räumt Schappert aus Waldgirmes ein: »Wir alle freuen uns auf Derbys mit dem FC Gießen. Aber unter den Umständen dürfte es neutral betrachtet nahezu unmöglich werden, jetzt noch eine starke Hessenliga-Mannschaft zusammenzustellen. Es sei denn, du findest einen Topf voll Gold.«

Wir geben den Überblick über den Status quo der ambitionierten heimischen Fußballvereine und erklären, warum es für sie komplexer wird, Qualität mit Regionalität zu verbinden.

Weshalb der Markt umkämpfter wird

1. Junge, veranlagte Akteure wechseln mittlerweile früher in die Nachwuchsleistungszentren - der (Traum-) Weg in den Profibereich führt kaum noch über den ambitionierten Amateurfußball im Seniorenbereich. »Früher«, weiß Bulut, »sind sehr gute Spieler auch mal bis 19 oder 20 Jahren in der Region geblieben. Das ist heute fast undenkbar.« Durch die frühen Wechsel »sinkt das Niveau im Amateurfußball. Diese Spieler stehen für den gehobenen Amateurbereich nicht mehr so zur Verfügung«, erklärt Bulut.

Da darüber hinaus lediglich zwei Vereine im Gießener Land auf entsprechendem Niveau für die Hessenligisten ausbilden (TSG Wieseck und FC Gießen), entsteht - wie die drei erfahrenen Trainer anmerken - ein Missverhältnis: »Jeder«, sagt Schappert, »streckt seine Fühler in die Jugendabteilungen dieser beiden Vereine aus. Wenn du als 18-Jähriger dann von fünf Vereinen angesprochen wirst, hältst du schnell viel von dir. Wenn im Alter von 18 Jahren 50 Euro mehr oder weniger darüber entscheiden, wohin du wechselst, ist das aus meiner Sicht nicht gut.«

2. Die Verbandsliga bietet Vorteile. Bulut: »Die wirklich guten Verbandsliga-Spieler scheuen teilweise den Aufwand in der Hessenliga. In der Verbandsliga erfahren sie viel Wertschätzung und können im Training auch mal fehlen. Sie spielen am Wochenende trotzdem. In der Hessenliga müssen sie immer da sein und sind eher einer von vielen.«

3. Wer »Externe« holen will, zahlt drauf: »Für jeden Kilometer, den der Spieler weiter entfernt vom Verein wohnt, zahlst du. Ein Frankfurter Spieler braucht hier ja alleine 300 Euro Spritkosten im Monat. Das ist Geld, was auf der Straße bleibt - das bringt weder dem Spieler, noch dem Verein etwas«, erklärt Bulut. Die Frage: Kann sich Gießen in seiner jetzigen Situation etwas anderes leisten, als auf Akteure aus dem Rhein-Main-Gebiet zurückzugreifen, um seinen Kader adäquat zu füllen?

FC Gießen

Nach Notvorstand Turgay Schmidt sind nun auch die sportlich Verantwortlichen in der vergangenen Woche auf Tauchstation gegangen. Offiziell befanden sich Daniyel CImen und Christian Memmarbachi im Urlaub. »Es geht darum, den Abstieg zu verdauen und mal zur Ruhe zu kommen«, sagte Memmarbachi. Cimen war nicht zu erreichen.

Der FC Gießen steht nicht nur vor der Herausforderung, zu einer Zeit, in der die allermeisten Akteure bereits gebunden sind, etliche neue Spieler holen zu müssen - er wird aller Voraussicht nach auch die wenigsten Spieler der letzten Saison halten (können). Die aus Gießen stammenden Leistungsträger Donny Bogicevic und Dennis Owusu sind bereits abgewandert, die Verträge mit Giuseppe Burgio, Nejmeddin Daghfous und Niclas Mohr wurden aufgelöst. Aus dem Umfeld der drei Japaner Ryunosuke Takehara, Takero Itoi und Ko Sawada ist zu vernehmen, dass sie sich keine weitere FC-Saison antun wollen - generell gehen viele Spieler im Unfrieden.

Selbst waschechte Gießener wie Louis Münn zieht es - wie im Vorjahr Hendrik Starostzik - nun weg: Der defensive Mittelfeldspieler wechselt dem Vernehmen nach zu Eintracht Stadtallendorf. Auch ein Verbleib von Kristian Gaudermann im Waldstadion ist unwahrscheinlich. Die wenigsten Akteure also bleiben - ein komplett neuer Stamm aus einem nahezu ausgeschöpften Pool muss neu rekrutiert werden.

Die zweite Mannschaft trat zuletzt in der Verbandsliga schon nur noch mit zehn Mann ohne Ersatz an, aus der A-Jugend kommt in diesem Sommer jahrgangsbedingt wenig nach. Wer auch immer letztlich sportlicher Entscheidungsträger in Gießen sein wird: Kreativität ist gefragt.

Wie auch die Kollegen Bulut und Schappert erklärt Sicaja, angesprochen auf die Situation von Daniyel Cimen: »Ich schätze ihn sehr. Mir steht es nicht zu, mich zu anderen Vereinen zu äußern. Aber generell kann ich sagen, dass du dich in dieser Situation aus Trainersicht ein Stück weit alleine fühlst und das sehr schwer wird.« Die Probleme des FCG aber: Über Jahre hinweg allesamt hausgemacht.

Eintracht Stadtallendorf

»Unser Kader steht zu fast 90 Prozent«, sagt Trainer Dragan Sicaja - der große Vorteil der Eintracht: »Wir sind in unseren Planungen unabhängig von der Klasse.« Eine Grundphilosophie im Verein, etwas also, das auch dem FC Gießen gut zu Gesicht stehen würde, überragt kurzfristige Ziele und Personalschwankungen. »Wir sind in den letzten sechs Jahren zweimal ab- und zweimal aufgestiegen«, weiß Sicaja.

Das Rad am Herrenwaldstadion wird sich weiter drehen - ob in Hessen- oder jetzt vermutlich wieder Regionalliga. Sicaja: »Wenn uns ein Spieler wichtig ist, sprechen wir spätestens in der Winterpause mit ihm über die kommende Saison. Da wird die Richtung vorgegeben. Das musst du machen.«

Die Verbundenheit zu langjährigen Weggefährten wie Kevin Vidakovics (spielte elf Jahre in Stadtallendorf) oder Jascha Döringer (lief sechs Spielzeiten lang für die Eintracht auf) bleibe auch nach einem Wechsel bestehen - anders als in Gießen.

FSV Fernwald

Auf 16 Feldspieler und drei Torhüter kann der FSV Fernwald für die neue Hessenliga-Saison bauen. Bulut: »Wir suchen noch einige wenige Spieler, sind aber zu 80 Prozent durch«, erklärt Bulut. Dabei besteht der Großteil des Steinbacher Kaders aus Ex-Wiesckern, die bei der TSG ausgebildet wurden.

FSV-Unterstützer Günter Hühn an der Spitze legt wie Trainer Bulut Wert darauf, heimischen Spielern eine Plattform für hochklassigen Fußball zu bieten. Junge Akteure werden herangeführt von Gießenern wie Johannes Hofmann, Erdinc Solak oder Louis Goncalves.

SC Waldgirmes

Der SCW plant seit jeher spielklassenübergreifend für die erste Mannschaft und die U23 gemeinsam - folglich sagt Schappert: »Wir können derzeit fix mit rund 30 Spielern für die nächste Saison planen. Es fehlt nicht viel.«

Die Verknüpfung zwischen der U23 in der Verbandsliga und der ersten Elf in der Hessenliga ist ein Kernmerkmal der Lahnauer: »Mir liegt viel an der zweiten Mannschaft«, sagt Schappert, der diese selbst drei Jahre lang als Spielertrainer coachte, ehe er in die Hessenliga wechselte.

»Punktuell kann jeder aus der U23 auch mal in der Hessenliga seinen Mann stehen.« Weit über die Hälfte der Akteure hat eine Waldgirmeser Vergangenheit. »Wenn ein Spieler zu uns kommt und noch ein Jahr A-Jugend bei uns mitmacht, dann zwei Jahre in der U23 aktiv ist und dann in die erste Mannschaft übergeht, dann ist das ein Verdienst vom Verein.«

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sno_geschichte-B_150711__4c_3 © Peter Froese

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