»Es gibt keine Tabus mehr«

Über den Nachwuchsfußball in Deutschland ist nach dem frühen WM-Aus der Nationalmannschaft in den letzten Wochen viel diskutiert worden. Über die Lage in Hessen von den Bambini bis zu den A-Junioren sprechen wir mit Verbandsjugendwart Carsten Well. Er vertritt die Auffassung, dass es gerade bei den älteren Jahr- gängen keine Denkverbote geben darf.
Er sieht bei den Herausforderungen der Zukunft auch die Vereine in der Pflicht.
Wie groß ist Ihre Freude, dass der Fußball-Nachwuchs wieder Hallenrunden spielen konnte?
Ich bin sehr froh, dass nach der langen Corona-Pause auch der Spielbetrieb in der Halle in vielen Kreisen wieder durchgeführt wird. Allerdings ist dies in Hessen nicht überall der Fall, da zahlreiche Hallen aufgrund der Energiekrise gänzlich geschlossen oder nicht beheizt werden oder zum Beispiel durch andere Verwendungszwecke - zum Beispiel der Aufnahme von Geflüchteten - belegt sind. Das ist schade, allerdings auch nachvollziehbar. Hoffen wir, dass dies alles 2023/2024 wieder überall möglich sein wird. Toll, dass es an vielen Orten dennoch klappt und wir vielen Kindern und Jugendlichen wieder eine Beschäftigung in der »schlechten Jahreszeit« bieten können.
Hat die Corona-Pandemie gravierende Folgen für den hessischen Jugendfußball gehabt?
Diese Frage muss man differenziert betrachten. Auf den Leistungsfußball sicherlich nicht so stark. Damit meine ich die Nachwuchsleistungszentren der Proficlubs sowie die Hessenligen. Je niedriger aber die Spielklasse ist, umso größer werden auch die Sorgen der Vereine, dass Spieler und teilweise auch Trainer und Trainerinnen einfach aufgehört haben und nicht wiederkommen. Dort liegen die Prioritäten eben nicht ausschließlich auf dem Fußball und viele haben während der starken Einschränkungen während der Corona-Pause festgestellt, dass man seine Freizeit auch ganz gut mit anderen Dingen verbringen kann. Besonders betroffen sind die C- bis A-Junioren, bei denen insbesondere auf Kreisebene viele Vereine mit diesem Phänomen zu kämpfen haben.
Was läuft aus Ihrer Sicht besonders gut im hessischen Jugendfußball?
Im Vergleich zu anderen Landesverbänden sind wir mit der Einführung der neuen Wettbewerbsformen im Kinderfußball schon sehr weit. Die seit dieser Saison bestehende Verpflichtung für die G-Junioren, nur noch »Funino« zu spielen, ist in vielen Kreisen vorbildlich umgesetzt worden, auch wenn es natürlich hier und da noch Skeptiker in den eigenen Reihen, bei den Vereinen oder Eltern gibt. Hier müssen wir alle weiterhin mit erfolgreichen Praxisbeispielen überzeugen.
Wie hat sich Funino (3 gegen 3 auf vier Tore) bei den Bambini und den G-Junioren aus Ihrer Sicht bewährt und ist es sinnvoll, diese Spielform auf andere Altersklassen auszuweiten?
Wir haben bisher weit überwiegend positive Erfahrungen gemacht. Eine Ausweitung auf die F-Junioren kommt spätestens verpflichtend zur Saison 2024/2025. Dies hat der DFB so beschlossen und in der Jugendordnung verankert. Dies entspricht auch unserer Philosophie vom Kinderfußball. Wie sich dies dann in die E-Junioren durchwächst, wird man sehen.
Was sagen Sie den Kritikern, die unter anderem monieren, dass bei dieser Spielform keine Torhüter mehr ausgebildet werden?
Diese Kritiker haben sich vermutlich nicht genügend mit der Thematik auseinandergesetzt. Im Kinderfußball sprechen wir nicht von einer Ausbildung, schon gar nicht von einer positionsspezifischen Förderung. Es geht um die Grundlagen, wie Dribbeln, Passen, Schießen, um koordinative Fähigkeiten und den Spaß an der Bewegung. Dies sind alles Fertigkeiten, die ein späterer Torhüter auch benötigt und die er jetzt zunächst als Feldspieler lernt. Außerdem ist es nicht verboten, im Training auch mal einen Torhüter ins Tor zu stellen und Torschussübungen mit den Feldspielern durchzuführen. Später, ab den E-Junioren, kann dann behutsam mit der Spezialisierung begonnen werden. Auch hier gilt: Wir spielen im Feld und im Tor.
Wo sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen?
Zunächst müssen wir die Umstellung für die G-Junioren in den neuen Kinderfußball auf 100 Prozent bringen und die letzten Zweifler mit Argumenten überzeugen, dass diese Spielform der altersgemäßen Entwicklung entgegenkommt, alle Kinder entsprechende Spielzeiten erhalten und so möglichst wenige Nachwuchskicker verloren gehen. Als nächster Schritt muss dies dann auch für die F-Junioren gelingen. Mit unserer sukzessiven Einführung über mehrere Jahre, wie wir sie bisher praktizieren, liegen wir sicher richtig. Die verpflichtende Einführung gemäß der DFB-Jugendordnung ist somit gut vorbereitet.
Es gibt sicher noch mehr Herausforderungen.
Wir haben außerdem festgestellt, dass die Vereine in den ländlichen Regionen kaum noch eigenständig spielen können und Partner sowie Möglichkeiten der Kooperation suchen. Jugendspielgemeinschaften und Jugendfördervereine sind geeignete Mittel, deren Vorschriften wir aktuell überprüfen und gegebenenfalls dem Zeitgeist anpassen müssen. Dazu haben wir eine Arbeitsgruppe gegründet, der auch Vertreter von Vereinen angehören.
Bei den A- und B-Junioren gehen seit Jahren die Mannschaftszahlen zurück. Setzt sich der Trend fort und gibt es Möglichkeiten, hier gegenzusteuern?
Wir versuchen, in den Bereichen an Stellschrauben zu drehen, die wir direkt beeinflussen können, zum Beispiel durch Maßnahmen im Spielbetrieb. Ein erster Schritt war die Anpassung der Jugendordnung am letzten Verbandstag, wonach nur noch Spieler des älteren A-Junioren-Jahrganges eine Senioren-Spielberechtigung erhalten können. Früher war es so, dass auch Spieler des jüngeren Jahrganges mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres bei den Senioren spielen konnten. Dies führte dazu, dass gerade in der Rückrunde vermehrt diese Möglichkeit genutzt wurde, die Spieler dann nicht mehr bei den A-Junioren spielten und diese Teams schließlich vom Spielbetrieb zurückgezogen wurden. Davon betroffen waren dann auch zusätzlich die verbliebenen Spieler, die damit keinen Wettbewerb mehr hatten und uns in Teilen verloren gingen.
Das ist sicher nur ein erster Schritt - oder?
Es gibt in diesen Altersklassen keine Tabus mehr. Mittlerweile lassen wir auch das Spielen im Norweger Modell zu und erlauben Neuner-Mannschaften. Wir stehen auf dem Standpunkt, dass es besser ist, eine eigenständige Kleinfeldmannschaft aufzubieten, als gar kein Team zu stellen. Auch läuft seit einigen Jahren ein Pilotprojekt im Kreis Limburg/Weilburg, bei dem es gestattet ist, auf Kreisebene eine gewisse Anzahl von älteren Spielern in jüngeren Mannschaften einzusetzen. Ein kreisübergreifender Spielbetrieb wird bereits in einigen Kreisen praktiziert. Auch den Regelspieltag von Samstag oder Sonntag auf Wochentage zu verlegen, um den jungen Männern am Wochenende mehr Freiraum für private Unternehmungen zu geben, wird in den unteren Spielklassen getestet.
Was können aus Ihrer Sicht die Vereine tun?
Natürlich sind auch die Vereine gefordert, für diese Altersklassen durch qualifizierte und motivierte Trainer sowie vielfältige außersportliche Aktivitäten attraktiv zu sein und zu bleiben. Natürlich ist es schwer, solche Menschen zu finden. Vielleicht sollten die Vereinsverantwortlichen aber auch einmal darüber nachdenken, nicht alle finanziellen Möglichkeiten des Vereins in den Erwachsenenbereich zu investieren und dann von den Jugendtrainern ein ausschließlich ehrenamtliches Engagement zu erwarten.
Wie ist die Entwicklung in den anderen Altersklassen?
In den jüngeren Altersklassen übt der Fußball nach wie vor eine gewisse Faszination aus. Und durch das Spielen des neuen Kinderfußballs sollte jeder Verein in der Lage sein, auch mit wenigen Kindern eigenständig am Spielbetrieb teilnehmen zu können. Erfahrungsgemäß sind die Eltern begeistert bei der Sache und unterstützen in vielfältiger Weise - oftmals auch als Betreuer und Betreuerinnen.
Viele Vereine beklagen, dass es immer schwieriger wird, geeignete Trainer und Betreuer für den Nachwuchs zu finden. Was bedeutet dies für die Qualität der Jugendarbeit und wie kann der Verband die Vereine in diesem Punkt unterstützen?
Dieses Phänomen betrifft alle Institutionen, die auf Ehrenamtliche angewiesen sind. Wir können die Menschen für die Vereine allerdings nicht suchen. Wir bieten seit Jahren einen Seminarbaustein an, wie man Ehrenamtliche gewinnen kann. Die Frequentierung des Lehrganges ist allerdings gering. Da fragt man sich schon, warum das so ist. Auch offerieren wir eine Reihe von Qualifizierungsmaßnahmen, die teilweise kostenlos sind und bei denen der Zeitfaktor, zum Beispiel durch Online-Module, erheblich verkürzt wurde und wir somit auch dem knappen Zeitbudget der Teilnehmer entgegenkommen. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn sich alle Betreuer und Betreuerinnen auch qualifizieren. Dies ist aber Wunschdenken. Auch werden wir dies nicht zur Voraussetzung in den bestimmten Alters- und Spielklassen machen können.
Die Heim-EM wirft ihre Schatten voraus. Versprechen Sie sich von dem Turnier in Deutschland einen positiven Effekt für den Jugendfußball?
Dies hängt natürlich in erster Linie von dem Abschneiden der deutschen Mannschaft ab. Eine Welle der Begeisterung kann das Land und damit auch die Kinder und Jugendlichen erreichen. Es wäre wünschenswert und ist unsere Hoffnung. Was aber nützt es, wenn die Vereine mögliche Neulinge gar nicht aufnehmen können, weil es keine Menschen gibt, die sich um sie kümmern? Das Ehrenamt muss insgesamt aufgewertet und attraktiv gemacht werden. Dies ist keine Aufgabe, die der Fußball allein erreichen kann. Da sind alle, auch die Politik, gefragt.
Blicken wir abschließend noch einmal auf Ihre fußballerische Heimat: Wie schwierig ist es, einen geregelten Spielbetrieb im Fußballkreis Alsfeld aufrechtzuerhalten und wie beurteilen Sie die Lage im Fußballkreis Gießen?
Der Kreis Alsfeld gehört zu den kleinsten Organisationseinheiten im Hessischen Fußball-Verband. Er ist eine ländliche Region, die ohnehin mit immer weniger werdender Bevölkerung sowie mit Abwanderungen in Ballungszentren zu kämpfen hat. Deshalb findet der Spielbetrieb teilweise schon seit Jahren in gemeinsamen Spielklassen mit den Nachbarkreisen statt. Der Kreis Gießen ist durch die Infrastruktur und Einwohnerzahlen davon noch nicht so stark betroffen. Den Verantwortlichen vor Ort, insbesondere den Kreisjugendausschüssen und den Jugendleitern, gelingt es schon seit vielen Jahren, hier stets noch einen attraktiven Wettbewerbsspielbetrieb zu erreichen. Am Ende müssen wir sehen, was im Seniorenbereich bei der derzeit dort zu entwickelnden Spielbetriebs- und Strukturreform herauskommt. Hier wird sich zeigen, welchen Zuschnitt künftige Organisationsbereiche haben. Wir im Bereich der Junioren waren da bisher immer sehr flexibel und haben Probleme im Bereich des Spielbetriebs pragmatisch gelöst.
