Düstere Aussichten

(fjd). Nachdem pandemiebedingt die Räder für einen Zeitraum von rund zwei Jahren mehr oder weniger zum Stillstand gekommen waren, ist seit Herbst 2022 auch in den Hessischen Spielklassen der schachsportliche Alltag wieder eingekehrt. Alte Hierarchien in Form von Leistungszahlen aus der Vor-Pandemie-Zeit hatten bei vielen Schachvereinen ausgedient. Insbesondere jugendliche Spieler drängten nunmehr an die Spitzenbretter, konnten diese doch über Schachwettkämpfe im Internet sozusagen »im Verborgenen« (ohne DWZ oder Elo-Auswertung) ihre Spielstärke erheblich steigern.
Während im Gegenzug so mancher Schachfreund im Senioren-Alter die Pandemie zum Anlass nahm, die Laufbahn zu beenden.
Nimmt man die aktuellen Platzierungen in den überregionalen hessischen Spielklassen zum Maßstab, so ist es um das Leistungsschach im Sportkreis Gießen düster bestellt. Sowohl in der Hessenliga als auch in Verbandsliga Nord und in der Landesklasse West liegen die einstigen Flagschiffe der Region auf der Sandbank. Allen fünf Teams von Biebertal bis Hungen/Lich steht nach fünf von neun absolvierten Spieltagen im Abstiegskampf das Salzwasser bis zum Hals, sodass am Sonntag - wenn ligaübergreifend die sechste Runde ansteht - Erfolge unumgänglich sind, um die Manövrierfähigkeit mit Kursrichtung gesichertes Mittelfeld wieder zu erlangen.
Hessenliga
Nicht viel schlechter als in früheren Spielzeiten ist der SK Gießen in die Saison 2022/23 gestartet, doch sind die bislang erzielten 3:7 Punkte gleichbedeutend mit dem zehnten und letzten Tabellenplatz. Den respektablen Punkteteilungen gegen den FTV Frankfurt und gegen den Vorjahresdritten Schachfreunde Neuberg II stehen Niederlagen gegen Aufsteiger SV Wiesbaden II und SV Griesheim sowie ein eher enttäuschendes 4:4 gegen Brett vorm Kopp Frankfurt gegenüber. Hinter dem gewohnt solide agierenden langjährigen Erstbrettspieler, FM Roger Derichs (zwei Punkte aus drei Einsätzen), der weiterhin die Auswärtsfahrten von seinem Wohnort Erfurt auf sich nimmt, um seinem Verein zu unterstützen, tendierte die Ausbeute an den Brettern zwei und drei bislang gegen null (0,5 aus 9). Gut in Form präsentierten sich bislang Thomas Sunder (2,5/4), der nach längerer Schaupause sich nun wieder an Brett vier im Angriffsmodus befindet, und Himmer Bicet, der in allen fünf Begegnungen auflief und mit ausgezeichneten 3,5/5 zum Leistungsträger des Traditionsvereins avanciert. Am Sonntag steht für Gießen die Auswärtsbegegnung beim Tabellendritten VSG Offenbach (6:4 Punkte) auf dem Programm.
Prognose: Der SK Gießen wird sich strecken müssen, um den Kopf noch aus der Schlinge zu ziehen, zumal es in der höchsten hessischen Spielklasse - ausgeglichen wie nie zuvor - an prädestinierten Absteigern mangelt. Da nach jetzigem Stand allerdings nur der Tabellenletzte ins Gras beißen muss, bleiben die Rettungschancen für den SK durchaus intakt. Chance auf Klassenerhalt: 50:50.
Verbandsliga Nord
Den Abgang ihres jugendlichen Ausnahmespielers Alexander Krastev, der sich mittlerweile mit dem Titel eines Internationalen Meisters (IM) schmücken darf und seit 2021 das erste Brett des Zweitbundesligisten SG Solingen II bespielt, konnten die Biebertaler Schachfreunde erwartungsgemäß nicht annähernd kompensieren. Weder im Liga-Alltag noch bei den deutschen U-20-Mannschaftsmeisterschaften, bei denen Biebertal zum zweiten Mal in Folge den letzten Platz belegte. Einstige Jungtalente, die im Alter von 12 bis 14 Jahren verheißungsvolle Resultate erzielten, haben mit ihren seit Längerem stagnierenden DWZ-Werten im 1750- bis 1900-Bereich offenkundig ihr persönliches Limit erreicht und als Folge dessen ihr Interesse auf das Fachstudium an Universitäten fokussiert. Zudem sind langjährige Leistungsträger wie Philipp Risius, Florian Reichelt, Nils Damm oder Alexander Lähnwitz aus beruflichen und familiären Gründen entweder gar nicht oder nur noch sporadisch verfügbar.
Die dadurch entstandenen Löcher versucht Biebertals Sportlicher Leiter Andreas Barth notdürftig zu flicken, indem ständig wechselnde Ersatzspieler aus unteren Spielklassen (Landesklasse West, Bezirksliga Lahn-Eder) hochgezogen werden oder die Bretter ganz unbesetzt gelassen werden. Fünf kampflose Verluste von Einzelpartien sind ein Negativ-Rekord in der Nach-Pandemiezeit. Die Quittung für derlei Flickschusterei gab es spätestens beim 2:6-Debakel gegen den nominellen Abstiegskandidaten SK Marburg II - einem Kontrahenten, der im Normalfall ideal ins Biebertaler Beuteschema gepasst hätte, der allerdings - im Gegensatz zu Biebertal - stets alle verfügbaren Spieler an die Bretter bringt.
Den vier Pleiten gegen den SK Gründau (1,5:6,5), dem SV Oberursel II (2:6), König Nied (2,5:5,5) und Marburg II steht lediglich der 5:3-Heimerfolg gegen den Tabellen-Achten SC Fulda II (3:7 Punkte) gegenüber, sodass sich die Barth-Truppe mit 2:8 Zählern auf dem vorletzten Tabellenplatz wiederfindet. Schlusslicht SC Bad Nauheim (1:9) hat zu allem Überfluss das deutlich leichtere Restprogramm. Am Sonntag empfängt Biebertal den Tabellendritten Caissa Kassel (7:3), der Tuchfühlung zu Spitzenreiter SV Oberursel II (8:2) hält.
Prognose: Aus den oben genannten Gründen ist es wahrscheinlich, dass die Biebertaler Schachfreunde entweder direkt absteigen (Platz zehn) oder als Liganeunter der Abschlusstabelle in der Relegation scheitern werden. Vorentscheidenden Charakter dürfte dem »Abstiegs-Gipfel« am 26. März in Fellingshausen zwischen Biebertal und Bad Nauheim zukommen.
Landesklasse West
Angesichts der hohen Zahl von mutmaßlich drei direkten Absteigern dürfte es den drei Teams aus dem Sportkreis Gießen bereits vor Saisonbeginn klar gewesen sein, dass die Spielzeit 2022/23 kein Zuckerschlecken werden wird. Schließlich ergab der Durchschnittswert der DWZ-Leistungszahlen für Sfr. Wieseck (Schnitt 1813 DWZ/Rang acht), Sfr. Biebertal II (Schnitt 1766/Rang neun) und SSG Hungen/Lich (Schnitt 1728/Rang zehn) ausnahmslos direkte Abstiegsplätze. Ähnliche Werte hatten die Akteure der SSG Hungen/Lich in jüngster Vergangenheit allerdings nicht davon abgehalten, serienweise der nach Papierform favorisierten Konkurrenz ein Schnippchen zu schlagen und die Spielzeit in der LK West auf Rang zwei (2019/21) bzw. Rang drei (2021/22) abzuschließen. Mit FM Gerd Euler und Joachim Lehwalder verfügte die SSG über zwei »Leitwölfe«, die das hochmotivierte Team mitgerissen hatten. Die nahezu hundertprozentige Spielbereitschaft des Stamm-Achters taten ihr Übriges. Die Erfolgs-Mannschaft der Vorjahre war fast schon gemeldet, als die Tragödie vom plötzlichen Tod Lehwalders hereinplatzte, der Anfang Juli 2022 kurz vor seinem 57. Geburtstag verstorben war. Kurz vor Meldeschluss wurde der oberligaerfahrene Altmeister Hans-Jürgen Fleuch reaktiviert, der mit ruhiger Spielweise an mittleren Brett alle fünf Partien in den Remishafen führte. 1:1 zu ersetzen war der langjährige Top-Scorer Lehwalder jedoch nicht, sodass die SSG trotz verheißungsvollem Saisonauftakt (4,5:3,5 über den aktuellen Liga-Zweiten SK Stadtallendorf) mit nunmehr 3:7 Punkten auf Platz acht abgerutscht ist. Besonders schmerzhaft war die 3,5:4,5-Pleite am fünften Spieltag gegen das bis dato punktlose Schlusslicht Sfr. Wieseck.
Besagte Wiesecker Schachfreunde waren bereits in der Saison 2021/22 mit Platz acht sportlich abgestiegen, hielten dann jedoch am »grünen Tisch« die Spielklasse, da der Vertreter aus der Bezirksoberliga Wiesbaden auf den Aufstieg verzichtet hatte. Der Abgang des langjährigen Erstbrettspielers Andreas Muth, der zum Hessenligisten Sfr. Neuberg II wechselte, war auch nicht dazu angetan, mehr Sonne zwischen den immer tiefer hängenden Abstiegswolken zu erspähen. Tatsächlich gingen auch die ersten vier Punktspiele für die Gießener Vorstädter ausnahmslos verloren (wenn auch recht knapp), bevor Anfang Dezember der Derby-Erfolg gegen Hungen/Lich für etwas Hoffnung sorgte. Mit 2:8 Punkten liegt Wieseck auf Rang neun.
Relativ am besten steht noch die zweite Mannschaft der Biebertaler Schachfreunde da, die sich jeweils mit 4,5:3,5 am Vorletzten Wieseck und an Schlusslicht Turm Idstein (1:9) schadlos hielt und mit 4:6 Punkten aktuell Platz sieben belegt. Gegen die Rettung von Biebertal II spricht neben dem schwierigen Restprogramm (u. a. gegen die Top-Teams aus Limburg und Erbach) zusätzlich die Tatsache, dass sich möglicherweise Spieler in der Biebertaler Ersten festspielen werden und der Kader dadurch qualitativ weiter ausgedünnt wird.
Prognose: Von mutmaßlich drei direkten Absteigern wird es zwei Vertreter aus dem Sportkreis Gießen erwischen. Wer sich von dem Trio wird retten können, steht in den Sternen. Die Erfolgsaussichten sind für Wieseck, Biebertal und Hungen/Lich in etwa gleich gering. Am Sonntag stehen für die heimischen Teams folgende Begegnungen auf dem Programm: Sfr. Wieseck - SK Stadtallendorf (14 Uhr, Bürgerhaus Wieseck), Sfr. Braunfels - Sfr. Biebertal II, SSG Hungen/Lich - TuS Dotzheim (14 Uhr, Alte Schule Hungen).