»Der Sport muss in Gießen immer betteln«

Mehmet Tanriverdi führt als Vorsitzender des MTV 1846 Gießen rund 2400 Mitglieder. Im klaren Interview spricht er über die Missstände in der Gießener Sportpolitik und erklärt,weshalb es keine Sonntags- reden, sondern konkrete Umsetzungen braucht.
Mehmet Tanriverdi zählt zu jenen Menschen in Gießen, dessen Wort Gewicht hat. Der Mann mit Format ist Vorsitzender von rund 2400 Mitgliedern des MTV 1846 Gießen, wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und war selbst über ein Jahrzehnt im Gießener Stadtparlament tätig.
Wenn der 60-Jährige davon spricht, dass in Gießen Sporthallen fehlen, die Stagnation der letzten 30 Jahre ein »Armutszeugnis« sei und Vereine bei der Gießener Politik »immer betteln müssen«, sagt das viel aus.
Im Interview erklärt der MTV-Chef, warum der Breitensportverein in den kommenden Jahren vor notwendigen Veränderungen steht, wie er den Zustand der Infrastruktur in Gießen bewertet und weshalb der Sport aus seiner Sicht jede Investition »mehrfach zurückzahlt«.
Herr Tanriverdi, in welchem Zustand befindet sich die Jahnhalle des MTV 1846 Gießen, die im Besitz des rein von den Mitgliedern her zweitgrößten Vereins Gießens ist?
Mehmet Tanriverdi: Die Jahnhalle wurde in den 60er-Jahren gebaut und ist somit fast 60 Jahre alt. Es ist keine klassische Ballsporthalle, sondern eine Gymnastikhalle, die nicht barrierefrei ist. Sie ist ein Energieschlucker. Gerade in Zeiten der Energiekrise fällt das auf - man kann kaum Energie einsparen. Man muss es so offen sagen: Das Gebäude ist marode. Es funktioniert, aber nicht mehr lange. Unsere Verwaltungsräume des Vereins befinden sich im Keller, die Sanitäranlagen sind in einem sehr schlechten Zustand. Das geht nicht mehr lange gut. Diese Halle ist nicht mehr zeitgemäß. Hinzukommt, dass unser Kunstrasenplatz nach weit über zehn Jahren bald erneuert werden muss. Hier reden wir von Kosten in Höhe von 150 000 bis 200 000 Euro.
Sie saßen am 9. März mit dem Oberbürgermeister, dem Stadtkämmerer und dem Sportamt zusammen.
Tanriverdi: Das stimmt. Wir hatten ein Gespräch, in dem wir der Stadt klargemacht haben, dass die Halle so in wenigen Jahren nicht mehr funktionsfähig sein wird. Wir sind offen für Kooperationen und neue Wege. Der Sport in Gießen könnte für die Stadtgesellschaft noch viel mehr bieten. Mit einer Ballsporthalle und Fitnessräumen könnten wir unsere Mitgliederzahl innerhalb von zwei Jahren locker auf 3000 steigern.
Das Thema ist nicht neu.
Tanriverdi: Wir hatten 2022 eine Machbarkeitsstudie mit mehreren Varianten für eine neue Halle erstellen lassen und darauf gehofft, in das Investitionsprogramm von Bund und Ländern zu gelangen. Der Antrag der Stadt Gießen aber fand keine Zustimmung. Jetzt ist das Programm ausgesetzt.
Wie hat sich die Stadt im Gespräch vom 9. März nun verhalten?
Tanriverdi: Man hat uns signalisiert, dass man uns unterstützen wird. Wir haben angeregt, eine Ballsporthalle auf unserem Gelände zu bauen, die vormittags von Schulen und nachmittags und abends vom Verein genutzt wird. Anstatt wie nun geplant eine große Halle auf dem engen Gelände der Liebigschule zu bauen, hätte man dort eine kleinere, praktikablere bauen und eine große auf unser Gelände setzen können. Dann hätten beide Parteien davon profitiert. Wir kommen der Schule seit Jahren damit entgegen, dass wir die Leichtbauhalle auf unserem Areal haben ansiedeln lassen. Klar ist: Aus eigener Kraft schafft ein Verein es kaum, eine neue Ballsporthalle zu bauen. So sehr können Sie die Mitgliedsbeiträge gar nicht erhöhen.
Mit welchem Kostenvolumen war die Halle Ihrer Machbarkeitsstudie aus dem Jahr 2022 verbunden?
Tanriverdi: Damals belief sich der Rahmen für eine Basketballhalle auf rund sieben Millionen Euro. Dabei würden die jetzigen Parkplätze des MTV 1846 wegfallen.
Was passiert, wenn nichts passiert?
Tanriverdi: Dann haben wir weiterhin hohe Energiekosten. Die Duschen müssen unbedingt erneuert werden. Spätestens in zehn Jahren ist die Halle nicht mehr nutzbar. Eine Sanierung wäre eine Verschwendung von Geldern.
Inwiefern haben Sie Stand heute eine seriöse Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation durch Unterstützung der Stadt?
Tanriverdi: Die Vereine leisten so einen wichtigen Beitrag für den Zusammenhalt der Stadtgesellschaft. Bei öffentlichen Veranstaltungen wird das von den Politikern dann auch sehr gerne erwähnt. In der Umsetzung aber ist mir das zu wenig. Da muss mehr kommen. Ja, wir kennen die Finanzlage und wir sind froh über eine gewisse jährliche Sportförderung. Aber in Gießen fehlt seit Jahrzehnten der große Wurf. Vereine müssen in dieser Stadt immer kämpfen und bei der Politik betteln. Die finanziellen Zwänge sind die eine Seite - aber es kann nicht sein, dass der Sport in dieser Stadt immer zurückstecken muss. Dafür ist er viel zu wichtig.
Wie bewerten Sie den Zustand der sportlichen Infrastruktur in der Stadt?
Tanriverdi: Es fehlen Hallen, mindestens eine, eher mehrere. Das haben wir der letzten Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz aber schon gesagt. Unsere Forderungen sind 20 Jahre alt und genauso aktuell wie damals. Ich erinnere nur an die Rivers-Halle. Unseren seit 1996 bestehenden Nutzungsvertrag hätten wir dort aufgrund uns beschränkter Platzmöglichkeiten gerne ausgeweitet. Von der Stadt hieß es, dass das Philharmonische Orchester des Stadttheaters keine anderen Räumlichkeiten als die Rivers-Halle nutzen könne - unsere Anfrage wurde abgelehnt. Das ist Augenwischerei. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Die Frage ist, ob der Wille da ist. Es war schon lange abzusehen, dass die Hallenproblematik für den Gießener Sport entsteht. Man hätte das schon vor Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, günstiger lösen können. Aktuell pendeln unsere Kinder und Jugendlichen zum Sporttreiben durch die Stadt, weil die notwendigen Ausweichwege zunehmen.
Was an der Gießener Sportpolitik fällt Ihnen positiv auf?
Tanriverdi: Die jährlichen Sportlerehrungen sind eine schöne Sache. Und auf Veranstaltungen sind die Vertreter auch oft präsent. Das ist nett. Aber es geht darum, das Ganze mit Leben zu füllen. Wissen Sie, wenn ich von meiner Arbeitsstätte in der Max-Eyth-Straße die Rödgener und Grünberger Straße Richtung Innenstadt fahre, sehe ich auf der linken Seite das Waldstadion. Und ich bin ganz ehrlich: Das Waldstadion-Areal zeigt den städtischen Zustand des Sports.
Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher ruft nun einen Sportstättenentwicklungsplan ins Leben.
Tanriverdi: Auf diesen Sportentwicklungsplan warten wir seit 30 Jahren. Es ist klasse, wenn sich jetzt etwas tut. Die Frage ist, ob sich auch etwas tun wird. Ja, es braucht Pläne. Aber es braucht auch eine konkrete Umsetzung. Pläne bedeuten nämlich nicht, dass etwas beschlossen wird. Dann steht die nächste Wahl vor der Tür und das Versprechen, dass diese Pläne dann in der nächsten Legislaturperiode umgesetzt werden. Tut mir leid, aber das ist nicht glaubwürdig.
Sie selbst waren von 2003 an 13 Jahre lang Mitglied im Stadtparlament. Wieso haben Sie sich damals nicht mehr für die Interessen des Sports eingesetzt?
Tanriverdi: Das stimmt, für eine Legislaturperiode saß ich sogar in der Sportkommission. Diese hat außer einer beratenden Funktion dem Sportdezernenten gegenüber gar keine Macht. Einzelne Stadtverordnete können wenig bewegen. Ich bin ehrlich: Damals war ich noch nicht in der Vereinsfunktion wie heute. Ich bin seit 2015 Vorsitzender des MTV 1846 Gießen. Ich habe jetzt einen ganz anderen Blick. Ich sehe all die Bedarfe, die ich vorher nicht gesehen habe. Ich bin mehrmals wöchentlich auf den heimischen Sportplätzen unterwegs. Ich sehe die Sportlerinnen und Sportler, ich diskutiere mit Ehrenamtlern, mit Verantwortlichen. Ich sehe es.
Was sehen Sie?
Tanriverdi: Wenn ich in der Woche Hunderte von jungen Menschen auf meiner Anlage Sporttreiben sehe... sie nutzen die Duschen, die Sanitäranlagen. Das ist kein Zustand. So kann man mit den Menschen nicht umgehen. Wir können viel mehr Menschen für den Sport gewinnen, wenn wir die Infrastruktur in dieser Stadt ändern. Ja, wir können viel zwischenmenschlich bewegen. Aber eine vernünftige Infrastruktur zählt eben auch dazu. Das gilt für viele andere Vereine, auch für viele andere Sportstätten. Wenn die Duschen in einem katastrophalen Zustand sind, wenn es in das Dach reinregnet oder der Platz einfach nicht da ist, wird es schwierig, Menschen in gleichem Maße zu begeistern.
Das heißt, wenn Sie heute noch Mitglied des Stadtparlaments wären...
Tanriverdi: ...würde ich den einen oder anderen Antrag mehr einbringen. Die Stadtregierung muss die Notwendigkeit sehen und mehr Geld in die Hand nehmen. Was ich in Schule und Sport investiere, erhalte ich mehrfach zurück.
Warum?
Tanriverdi: Wir alle wissen doch um die unschlagbare Kraft des Sports, wenn es um langfristige Gesundheit und Gemeinschaft geht. Ich bin vor über 40 Jahren aus Kurdistan nach Gießen gekommen, um hier zu studieren. Sport ist der Motor für Integration. Auch als Unternehmer investiere ich heute als Sponsor in den Sport - aus Überzeugung. Sportler sind sich sofort einig. Das erlebe ich als Hobbyläufer tagtäglich. Die Sportplätze sind die Integrationsplätze in diesem Land.

