Chaos mit Happy End

(fjd). Am vergangenen Sonntag wurde in den überregionalen Spielklassen des Hessischen Schach-Verbandes der Spielbetrieb wieder aufgenommen. Coronabedingt waren die Schachbretter seit November 2021 im Schrank verstaut gewesen. Der insbesondere von den jüngeren Schachfreunden herbeigesehnte Restart verlief - was die Hessenliga betrifft - eher schleppend.
Dass die zweite Mannschaft von Emstal/Wolfhagen, die zur Hälfte aus in der Ukraine ansässigen Spielern im wehrfähigen Alter besteht, angesichts des Krieges kein Team wird stellen können, war allgemein erwartet worden. Weit weniger nachvollziehbar erscheint jedoch das Nichtantreten des ambitionierten Vizemeisters Dettinger Schachfreunde beim FTV Frankfurt (0:8 kampflos). Während Brett vorm Kopp Frankfurt das Main-Derby bei der VSG Offenbach mit 5:3 für sich entschied, konnte der SV Hofheim II Schlusslicht SC Fulda mit 5,5:2,5 auf Distanz halten. In einem chaotischen Wettkampf kam der SK 1858 Gießen zu einem 4:4 gegen Schachfreunde Neuberg II.
SK 1858 Gießen - Sfr. Neuberg II 4:4: Bereits vor Wettkampfbeginn stand der Heimauftritt des mittelhessischen Traditionsvereins unter keinem guten Stern. Während Professor Roland Arbinger - seines Ruhestands offenbar überdrüssig geworden - Anfang des Jahres einen Lehrauftag an der Universität Schwerin angenommen hatte, mussten mit Peter Rudolph (Bronchitis) und Thomas Sunder (Corona-Symptome) zwei weitere langjährige Stammspieler krankheitsbedingt passen. Um Spitzenspieler FM Roger Derichs an Brett 2 den Anzugsvorteil zu ermöglichen, wurde das Spitzenbrett kampflos abgegeben, was unter den Umständen sinnvoll erschien.
Weit weniger rational verlief jedoch die Improvisation des SK 1858 in der hinteren Bretthälfte. Hektisch verfasste und sich teilweise widersprechende Whats-App-Nachrichten im internen Mannschaftsverkehr hatten zur Folge, dass ein herbeizitierter Ersatzmann umsonst im Spiellokal erschien, während der auf dem Spielberichtsbogen vermerkte Brett-sechs-Spieler Ahmad Mamous trotz Ankündigung nicht erschienen war und somit den Gästen in Person des Ex-Gießeners Frank Drill einen weiteren kampflosen Zähler bescherte (0:2). Um das Chaos komplett zu machen, wurde die digitale Schachuhr mit einer falschen Bedenkzeit versehen, was von den Beteiligten zunächst gar nicht bemerkt wurde. Die nach Turnierordnung zwingend erforderliche Zeitgutschrift von 30 Sekunden pro ausgeführten Zug (zusätzlich zur Rahmen-Bedenkzeit von 100 Minuten pro Spieler für 40 Züge) wurde nicht eingestellt. Davon unbeeindruckt erhöhte Neuberg auf 3:0. Der Caro-Kann-Verteidigung des U16-Spielers Emil Eull (DWZ 2008) konnte Gießens Newcomer Harald Locke (ohne DWZ!) etwa 18 Züge lang Paroli bieten, ehe ein Fesselungsmotiv mit nachfolgender Springergabel den Letztgenannten um Bauer und Qualität erleichterte.
Gastgeber wie Phönix aus der Asche
Wie Phönix aus der Asche fanden die Mittelhessen in die Begegnung zurück und schafften das Kunststück, innerhalb von 30 Minuten gleich drei zuvor materiell ausgeglichene Positionen zu ihren Gunsten zu drehen. Jens Bahlo (Brett fünf) hatte mit Schwarz gegen Niklas Iwanziw seine anfänglichen Eröffnungsprobleme (1. d4 Sc6 2. d5 Se5 3. f4 Sg6 4. e4 usw.) nicht nur überwunden, sondern seinerseits die Initiative ergriffen. Die Absicht des Gästespielers, einen kurz zuvor verlorenen Bauern zurückzugewinnen, mündete in einen zweizügigen Figurenverlust. Brettnachbar Thorsten Eckhardt bekam ebenfalls einen feindlichen Offizier auf dem Silberteller präsentiert, als Widerpart Aaron Knickel seinem auf f6 postierten Läufer durch den Blackout Kg8-g7 des einzigen Rückzugsfeldes beraubte und der Gießener mittels Vorstoß des g-Bauern nach g5 kurz entschlossen zugriff. Bereits zuvor hatte SK-Reservist Himmet Bicer (DWZ 1762) den 220-DWZ-Punkte schwereren Neuberger Adam Molnar mit der Wahl der Sizilianischen Verteidigung offenkundig auf dem falschen Fuß erwischt. Molnar hatte bereits nach 15 Zügen fast die komplette Bedenkzeit verbraucht, ohne zu verhindern, dass der Nachziehende in der scharfen Position mit heterogener Rochadestellung mit seinem Königsangriff durchdrang (3:3).
In den beiden übrigen Partien, die über fünf Stunden andauerten (hier waren die Uhren wieder auf die richtige Bedenkzeit korrigiert), versuchten die Gäste vergeblich, verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Jens Koller (Neuberg) biss trotz Raumvorteils gegen die geschlossene Struktur der »Modernen Verteidigung« von Dr. Lutz Konrad ebenso auf Granit, wie Christian Lehnert am Nachbarbrett, wo Roger Derichs stabil blieb und trotz Minusbauer im Turmendspiel die Partie im 68. Zug in den Remishafen überführte.