Bündelung der Kräfte
Ein langer Weg hat mit dem Sieg in der Frauen-Bundesliga in dieser Saison einen famosen Abschluss für die Amateur-Rennradfahrerinnen der RSG Gießen Biehler gefunden. Nun werden Kräfte konzentriert, ein neues Team entsteht. Und das will 2023 auch international am Start stehen.
Kunstnamen oder von Sponsoren abgeleitete Bezeichnungen sind im Amateursport zwar (noch) eher die Ausnahme, im Profibereich allerdings inzwischen Standard und im Radsport seit Jahrzehnten Usus. Die Zeiten von Jan Ullrich und Lance Armstrong sind fest verankert mit Teamnamen wie Telekom, T-Mobile, Bianchi, US Postal oder Discovery. Selbst zu Zeiten des großen Eddy Merckx hießen seine Radställe schon Faema (1968 - 1970) und Molteni (1971 - 1975). Die deutschen Stars vor Jan Ullrich, Didi Thurau und Klaus-Peter Thaler, fuhren Mitte/Ende der 70er Jahre für TI-Raleigh. Hinter den Teamnamen versteckten sich in aller Regel Sponsoren wie Raleigh (Fahrradhersteller), Molteni (Möbelhersteller) oder Telekom (Kommunikationsunternehmen).
In der Basketball-Bundesliga sind Mannschaftsbezeichnungen wie Alba Berlin, ratiopharm Ulm oder s.Oliver Würzburg längst geläufig, die Liga heißt inzwischen easyCredit Basketball Bundesliga, bei den Handballern LIQUI MOLY Handball-Bundesliga. Und die traditionellen Stadiennamen wie Waldstadion (Deutsche Bank Park), Parkstadion (Veltins-Arena) oder Müngersdorfer Stadion (RheinEnergieStadion) gehören ebenso längst der Vergangenheit an.
Zurück zum Radsport: 2012 ist die Frauen-Mannschaft der RSG Gießen und Wieseck als Team RSG Placeworkers auf den Plan getreten und hat unter der Leitung von Torsten E. Günther Stück für Stück die Bundesliga erobert. In den ersten Jahren noch meist mit Platzierungen im Mittelfeld und hinteren Drittel, rückte das Frauenteam der RSG Gießen und Wieseck immer näher an die Spitze heran. Seit 2019 als RSG Gießen Biehler - unterstützt durch den Fahrradbekleidungshersteller - unterwegs, erfuhr die Mannschaft in der jüngst abgelaufenen Saison durch Helena Bieber als Gesamtsiegerin, Katharina Fox als Dritte und Lydia Ventker als Vierte sowie Platz eins in der Teamwertung eine fulminante Krönung.
Dabei stellt RSG-Vorsitzender Günther klar, dass trotz Sponsorennennung im Teamnamen damit allein kein Staat zu machen ist. Und auch von einem Vollsponsoring sei die RSG Lichtjahre entfernt, überhaupt könne in der Bundesliga kein Team auf kostendeckende Unterstützung bei Material und Bekleidung setzen. Inzwischen ist die RSG Gießen Biehler an einem Punkt angekommen, an dem wenigstens Übernachtungen und Fahrtkosten getragen werden - das war’s dann allerdings auch schon. Die teuren Bikes stammen aus dem Eigentum der Fahrerinnen, bei der Bekleidung gab es allenfalls vergünstigte Konditionen - die Basis allen Wirkens war bei Günther, den Sportlichen Leitern Sebastian Ventker und Christian Müller sowie den Radfahrerinnen ihr Enthusiasmus und eigener Antrieb.
Nun folgt der nächste Schritt, die RSG Gießen Biehler und das Team maxx-solar Lindig (Solartechnik) aus Thüringen werden in der kommenden Saison eine gemeinsame Mannschaft stellen, damit kommen die beiden stärksten Vertretungen der letzten Jahre zusammen. »Inwieweit die RSG Gießen und Wieseck in dem neuen Konstrukt eine Rolle spielt, hängt davon ab, wie sich das in den kommenden Wochen ausgestaltet«, informierte der 52-jährige Diplom-Geograf. »Ich werde mich nicht in den Vordergrund drängen«, teilte der bislang im Hintergrund als eine Art Manager tätige Günther mit, der natürlich auch schon Ideen in sich trägt, sollte die RSG weitgehend vom neuen Team abgenabelt werden. Ein neues Team mit regionalem Bezug wäre eine Möglichkeit, den Frauenradsport in Hessen wieder auf stärkere Beine zu stellen. Eins hat die RSG Gießen Biehler deutschlandweit allerdings erreicht, in der Radsportszene ist Gießen inzwischen ein Begriff. »Es war mir auch ein Anliegen, Gießen als Stadt weiter bekannt zu machen, schließlich haben wir als Verein auch immer stets von der Unterstützung durch die Stadt profitiert.« (Günther)
Auch das neue Team wird nicht von einem Vollsponsoring profitieren können. Derzeit laufen Verhandlungen über geringere Einkaufspreise bei den Fahrrädern, die Fahrerinnen werden also auf einem Eigenanteil »sitzen bleiben«, schließlich fristet der Frauen-Radsport im Vergleich zu jenem der Männer immer noch ein Nischendasein, auch wenn am letzten Wochenende erstmals der Klassiker Paris - Roubaix auch für Frauen veranstaltet und live bei Eurosport übertragen wurde.
»Beim neuen Teamnamen sind wir noch in der Entscheidungsfindung«, wie Müller mitteilte, »Biehler als Sponsor ist raus, dennoch verfügen wir in der neuen Saison über mehr Mittel.« Die Vision hinter dem neuen Konstrukt: »Gemeinsam mit frischen Ideen die in Deutschland klaffende Lücke zwischen dem Nachwuchs- sowie Amateurbereich und der Profi-Elite zu schließen«, wie Müller vorausschaut, der nun auch auf die Erfahrungen von Vera Hohlfeld setzen kann. Die dreimalige Straßen-Vizemeisterin und Olympia-Vierte von 1996 in Atlanta war zuletzt Teamleiterin bei den Thüringerinnen und will »jungen Fahrerinnen die Möglichkeit geben, sich weiterzuentwickeln, ohne dass der Weg sie dabei ins Ausland führen muss«. Das neue Team soll neben Talenten aber auch Quereinsteigerinnen mit Potenzial eine Brücke bauen. »Es gibt Frauen, die erst spät zum Radsport finden und nicht den Weg durch den klassischen Nachwuchs gehen. Sie haben häufig erstaunliche Leistungsdaten, gehen in den aktuellen Strukturen aber oft unter. Bei ihnen wird es dann primär darum gehen, zu vermitteln, wie man Radrennen fährt«, kündigt die sportliche Führung an. Fest steht bislang: Bieber, Ventker und Fox bleiben ebenso im Boot wie Diana Steffenhagen, Vizepräsidentin Rennsport im Hessischen Radfahrerverband und zuletzt DM-Siebte im Cyclocross.
Perspektivisch ist angedacht, für die Saison 2023 eine UCI-Lizenz zu beantragen. Dann allerdings ist es mit 550 Euro für die Bundesliga-Meldung nicht getan, auf dieser Ebene sehen die Bedingungen des Weltverbandes auch Bürgschaften und Arbeitsverträge mit den Fahrerinnen vor. Allerdings nur für World-Tour-Teams, für die neue Mannschaft ist an einen Kontinental-Status gedacht - aber auch dafür sollte es schon ein bisschen mehr in Richtung Vollsponsoring gehen. FOTO: HTR
