Aufgeschoben ist nicht aufgehoben: So gehen heimische Top-Athleten mit der Olympia-Absage um

Es hat lange gedauert, doch nun ist es klar: Die Olympischen Sommerspiele in Tokio werden wohl erst im Sommer 2021 stattfinden. Für die heimischen Top-Athleten eine außergewöhnliche Situation.
Es war das Ende einer Hängepartie, als am Dienstag die Meldung über die Ticker lief: Die Olympischen Spiele 2020 in Tokio sind abgesagt und sollen ein Jahr später nachgeholt werden. Das bedeutet aber auch: Die Top-Athleten aus den Kreisen Gießen, Wetterau und Vogelsberg, die sich seit Jahren auf das sportliche Mega-Event vorbereiten, müssen ihre Pläne vollends über den Haufen werfen. Und auch sonst wirft die Krise um das Coronavirus Training- und Wettkampfbetrieb gehörig durcheinander. Wir haben uns umgehört:
»Weiter so« bei Ruderer Marc Weber
Über die Whatsapp-Gruppe erfuhr Top-Ruderer Marc Weber beim Heimtraining von der Olympiaverschiebung. Er hatte sich aufgrund der Meldungen der letzten Tage damit schon ein wenig angefreundet. »Ich habe es erahnt, sodass ich im ersten Moment gar nicht so richtig geschockt war«, lässt der Ruderer vom Gießener Ruderclub Hassia 1906 einen an seinen spontanen Gedanken teilhaben. Dennoch war es für ihn auch deprimierend, denn der gebürtige Licher stand mitten in der Olympiavorbereitung - was nach fünf knüppelharten Trainingslagern und zahlreichen Tagen in den Stützpunkten in Hamburg und Ratzeburg nachzuvollziehen ist. »Es ist aus sportlicher Sicht schade, aber aus menschlicher Sicht voll verständlich, deswegen bin ich auch nicht so traurig.«

Weber war für Tokio so gut wie gesetzt im Doppelzweier mit Stefan Krüger. Im Skullbereich waren alle deutschen Boote für Olympia qualifiziert. Doppelt bitter für den U23-Weltmeister im Einer? Ganz so schlimm sieht er die Sache nicht. Noch ist zwar nicht ganz sicher, ob die Qualifikation auch für das nächste Jahr gilt. Der Weltverband FISA hat diesbezüglich noch keine Stellung abgegeben. Aber Weber denkt sich, dass die Olympia-Qualifikation bestehen bleibt, weil in diesem Jahr kaum mehr richtige Events stattfinden werden. Und wenn er eine Quali braucht, wird der 22-Jährige sie sich sicherlich sichern. Immerhin zählt er zu den besten Ruderern Deutschlands. In Zeiten von Corona trainiert der Wahl-Butzbacher ausschließlich in seiner Wohnung. Von seinem Verein ist er bestens mit Geräten ausgestattet. »Ich habe einen Ruderergometer, Hantelstangen, Gewichte, eine Radrolle mit Rennrad, Schwingstäbe zur Kräftigung und ein Laufband, das ich schon zu Hause hatte. Ich bin wie ein kleines Fitnessstudio ausgestattet. Und wir haben einen Trainingsplan für das Homeoffice bekommen, bis unser Stützpunkt eine Sondergenehmigung bekommen sollte«, erklärt Weber.
Dem Saisonzeitpunkt entsprechend trainiert der Top-Athlet nach dem 3-2-2-Rhythmus. Das heißt: Erster Tag drei Einheiten, dann die beiden folgenden zwei - und dann wiederholt es sich. Nur der Sonntag ist frei. Daran hält er sich akribisch. Er will bestens auf einen möglichen Saisonstart vorbereitet sein. »Ich mache noch Uni zu Hause, ansonsten sitze ich eh nur rum. Dann kann ich auch trainieren - das macht mir wenigstens Spaß«, sagt Weber. Er vermisst natürlich das Rudern auf dem Wasser. Besonders aber das Rausgehen mit Freunden. »Jetzt kann man zwar über Facetime chatten. Aber einfach mal spazieren gehen, sich in den Park setzen - ich bin ein Naturmensch. Das ist, was fehlt.«
Sprinterin Lisa Mayer im Angriffsmodus
Über ihr Handy per Eilmeldung bekam Lisa Mayer von der Tokio-Verschiebung mit. Aber auch die Top-Sprinterin aus Niederkleen hatte am Abend zuvor schon davon gehört, dass dieses Jahr keine Olympischen Spiele stattfinden werden sollten. »Das war aber erst alles so halb offiziell«, sagt die 23-Jährige. Aber sie hat sowieso mit der Verschiebung gerechnet. »Ich habe das Ganze mit Fassung ertragen - ich war ja darauf vorbereitet. Ich habe mir erstmal gedacht: Es ist schön, dass diese Ungewissheit vorbei ist und dass man nun wirklich schwarz auf weiß hat, woran man ist und auf was man nun konkret hinarbeiten kann.«

Die für das Sprintteam Wetzlar startende Mayer hatte sich für Tokio noch nicht qualifiziert. »Ich bin gerade auf dem Weg zurück zu alter Stärke, sodass ich der ganzen Situation auch etwas Positives abgewinnen kann, da ich persönlich Zeit gewinne, um im nächsten Jahr so richtig anzugreifen«, so die 23-Jährige, die zuletzt nach einer langen verletzungsbedingten Pause die ersten Schritte in der Halle über die 60-Meter-Distanz hinter sich gebracht hatte. »Wir konnten eine lange Zeit geregelt trainieren. Zurzeit sind wir ein- bis zweimal draußen im Wald. Wir waren bislang nicht ganz so krass beeinträchtigt in unserem Training«, erklärt sie weiter. Eigentlich stand für sie nächste Woche ein Trainingslager in den USA an, um dort in Wettkämpfen die Olympiaqualifikation abzuhaken. »Wir hätten dort richtig Speed gemacht, wären richtig schnell gerannt.« So haben sich nun die Trainingsschwerpunkte verschoben. Die deutschen Sprinterinnen gehen nun ins Aufbautraining, weil man einfach mehr Zeit hat. Mayer geht davon aus, dass Wettkämpfe in diesem Jahr nicht vor Juli oder August starten, sodass man in der Periodisierung umdenken muss.
Die gebürtige Gießenerin fährt weiterhin mehrgleisig. Die 100, 200 Meter und die Staffel hat die Rio-Olympia-Teilnehmerin im Visier. »Ich weiß nicht genau, wo ich über die 200 Meter stehe, dafür konnte ich in den letzten Jahren aufgrund der Verletzung kaum etwas machen. Aber mein Herz hängt an den 200 Metern - auch wenn ich aktuell sehe, wie meine Läufe im Wald und am Berg laufen. Dann gibt mir das viel Mut für diese Strecke«, konstatiert sie. Ein Extralob erteilt sie dem hessischen Leichtathletik-Verband, der ihr Trainingsgeräte wie eine Langhantel oder Medizinbälle zur Verfügung gestellt hat. Die Olympia-Qualizeiten über 100 Meter sind 11,15 Sekunden, über 200 Meter 22,80. Zeiten, die Mayer in früheren Zeiten schon unterboten hat.
Zur Frage, was sie am meisten vermisst, sagt sie: »Einfach rausgehen zu können und mit Freunden einen Kaffee zu trinken.« Aber sie weiß, dass eine ganz schwierige Zeit herrscht und dass es natürlich viel wichtiger ist, alles Menschenmögliche dafür zu tun, dass das Virus weiter eingedämmt wird. »Ich bin jemand, der außer für das Training und Einkaufen nicht rausgeht. Ich habe selbst Leute, die ich kenne, die zur Risikogruppe gehören. Da hat man Verantwortung.«
Sprinter Steven Müller hält am Traum fest
Für Steven Müller waren die Olympische Spiele schon seit Beginn seiner Karriere der große Traum. »Da arbeitete ich seit acht Jahren drauf hin, aber dieser Traum ist nicht abgehakt«, sagt der Sprinter, der für die LG ovag Friedberg-Fauerbach an den Start geht. »Doch das muss nicht unbedingt negativ sein. Vielleicht werden meine Chancen so nur umso besser«, meint der zweifache deutsche Meister über 200 Meter. Trainiert wird momentan in der Wohnung, im Treppenhaus oder im Wald. »Wir versuchen das zu realisieren, was wir sonst auf der Bahn machen würden«, sagt der 29-jährige Müller, der seit Jahren vom Pohlheimer Otmar Velte betreut wird.

Gemeinsam wollen sie die Olympischen Spiele weiter im Visier behalten, aber »dafür brauche ich die Eckdaten«, sagt Velte. »Sprint ist eine Sportart, in der man maximal zwei Höhepunkte pro Saison hat. Und für Steven geht es darum, vor allem international nach oben zu klettern«, sagt Velte, der das Training minutiös plant. Dafür wäre die EM im August prädestiniert, doch auch die Wettkämpfe in Paris stehen auf der Kippe. »Das wäre schon bitter«, sagt Müller, der bei der EM in Berlin vor zwei Jahren seinen ersten internationalen Auftritt hatte. Gemeinsam mit der WM im kommenden Jahr stünden im Falle einer Verlegung der kontinentalen Titelkämpfe dann schon drei Großereignisse in einer Saison auf dem Plan - eine Priorisierung wäre nötig.
Für Müller war aber die Olympia-Absage zunächst einmal wichtig. »Bis zur Absage war es schwierig, sich auf das Training zu konzentrieren. Man war mit dem Kopf nicht zu 100 Prozent dabei. Jetzt merke ich, dass mich meine Trainingserfolge neu motivieren und ich weiter Gas geben kann. Ich werde einfach das Beste aus dem Sommer machen - und wer weiß, vielleicht sieht es in acht Wochen schon wieder besser aus.« Denn: Mit seiner aktuellen Form rechne er sich gerade für die Europameisterschaften einiges aus.
Läufer Marc Tortell sieht Chancen steigen

So richtig auf dem Zettel hatte Marc Tortell die Olympischen Spielen in Tokio eigentlich nicht - doch die Verschiebung könnte nun seine große Chance sein. »Je mehr Vorbereitungszeit ich dafür habe, umso besser«, sagt der Mittelstreckenspezialist vom Athletics-Team Karben. »Die Absage war und ist die einzig richtige Entscheidung. Es ist die beste Lösung - auch für die betroffenen Athleten -, denn die Bedingungen in der Vorbereitung sind nicht für alle gleich, wenn ich sehe, das Athleten in Spanien und Italien nicht einmal mehr ihre Wohnung verlassen dürfen.« Auch er selbst hat sein Training ins »Homeoffice« und in den Wald verlegt. »Eigentlich brauche ich nur einen Weg«, sagt Tortell. Entsprechend gering seien die Einschränkungen trotz der Schließung aller Sportanlagen.
Sein einziges Problem: Auch die Physiotherapie am Frankfurter Olympiastützpunkt ist momentan abgesagt, »Da muss man sich selbst etwas ausdenken«, sagt der 23-Jährige, der von seiner Mutter Uta via Telefon und Smartphone - und damit ohne persönlichen Kontakt - trainiert wird. Von einer EM-Absage wäre allerdings auch er hart betroffen, ist das doch eigentlich sein großes Ziel. »Aber das betrifft alle«, sagt Tortell. »Es ist aber insgesamt mies, weil auch sonst alle Wettkämpfe abgesagt sind. Man muss eben schauen, wie es weitergehen könnte.«
Für Tortell entscheidend, falls es in dieser Freiluftsaison noch einmal losgeht: Es muss Qualifikationen für die Großereignisse geben: »Sonst ergibt es auch keinen Sinn, an den Terminen festzuhalten.« Bis dahin sei er froh über die Zeit und die Ruhe, die er ins Grundlagentraining investieren könne. »Die vergangenen vier Jahre war ich immer unter Druck, aber jetzt bleibt Zeit, alles so lange zu machen, wie ich es will. Die ist für mich alles andere als negativ.«
Karriereende für Schütze Julian Justus?

Julian Justus hängt derzeit förmlich in der Luft. Der Sportschütze war schon 2012 bei den Olympischen Spielen in London mit dabei und qualifizierte sich vor vier Jahren auch für die Spiele in Rio de Janeiro. »Mein Plan war eigentlich, nach den Spielen dieses Jahr aufzuhören«, sagt der 32-Jährige, der auf Vereinsebene seit jeher für die Schützengilde Homberg aktiv ist. Nun ist völlig offen, ob er im kommenden Jahr noch einmal antritt. »Der Fachverband hat sich noch gar nicht dazu geäußert, wie es weitergehen könnte, wie und wann eine mögliche Qualifikation ausgetragen werden könnte.«
Der bisherige Stand für den Appenröder Luftgewehrschützen: Alle Qualifikationen sind abgesagt. Selbst die Weltcups in München, Dehli und Tokio finden nicht statt, hatte der Deutsche Schützenbund schon vor der Olympia-Verschiebung mitgeteilt. Nun muss zunächst mal ein neuer Termin für die Spiele gefunden werden, was nicht leicht werden dürfte. Für Justus, der zum Gewehr-Kader des DSB gehört, stellen sich neben den sportlichen auch finanzielle Fragen zu Förderung und Kaderstatus. »Die Deutsche Sporthilfe hat schon signalisiert, dass die Förderung so bleibt.« Immerhin.
Bislang hielt sich Julian Justus von zu Hause aus fit. Hauptsächlich das sogenannte Trockentraining ist individuell ohne Weiteres möglich. Dabei fliegt kein Projektil aus seinem Luftgewehr. Die mentalen und physischen Abläufe, die beim Sportschießen unabdingbar sind, werden minuziös wiederholt. Doch selbst dieses nicht allzu hohe Pensum dürfte sich nun weiter reduzieren.