Angriffslust am Stadttheater

Wer nicht gut sprinten kann, muss ausreißen - so kann man das Radrennen »Rund um das Stadttheater« zusammenfassen. Aber auch wer über den notwendigen starken Antritt verfügt, hatte am Samstag keinen leichten Tag auf dem schnellen Rundkurs in Gießen.
Mit Ausnahme der Nachwuchsklassen wurde das Tagesergebnis bei »Rund um das Stadttheater« in Gießen wieder als Kriterium mit regelmäßigen Sprints um Punkte ermittelt. Dazwischen sorgten Prämienrunden für eine zusätzliche Tempoverschärfung und im Idealfall für Zuwachs im Portemonnaie von Einzelfahrern oder in den Team-Mannschaftskassen.
Wegen seines beherzten Antritts bei einer dieser Wertungen kam Jonas Hartmann im Jedermann-Rennen in eine Ausreißer-Situation. Von ganz hinten gestartet, lag der Biebertaler vom Team Pizza Mouse nach einem Sprint bei Start und Ziel plötzlich in Führung. »Als ich gemerkt habe, dass keiner nachsetzt, habe ich gedacht: Dann fahre ich halt weiter. Dann musste ich zwangsläufig vorne bleiben«, sagte Hartmann. Nach 15 der 30 Runden habe er gemerkt, dass er es nicht mehr gewohnt sei, so lange so schnell zu fahren, sagte der ehemalige Lizenz-Rennfahrer. Maximilian Schmidt-Kreuzer (RSG Gießen und Wieseck) schaffte es, angepeitscht vom Publikum an der Johannesstraße, den Ausreißer auf der Zielgeraden noch einzuholen. Mit sicherem Punktepolster aus den Wertungsrunden seiner Solo-Fahrt gewann Hartmann, auch wenn er im Zieleinlauf hinter Schmidt-Kreuzer lag, der sich mit dem gelungenen Schlusssprint und mit Platz zwei im Tagesergebnis belohnte.
Wahner macht aus Not eine Tugend
Beim Rennen der Männer-Klasse Amateure hatte Stefan Wahner von der RSG Gießen und Wieseck aus der Not eine Tugend gemacht: »Ich habe in den ersten Runden schon gemerkt, dass ich nicht die schnellsten Sprinterbeine habe. Da war es für mich schon entschieden: Ich muss es über die Flucht versuchen«. Als die Gelegenheit günstig erschien, zog Wahner voll durch und setzte sich mit einem weiteren Fahrer ab. Er sei dann als Ausreißer in einen guten Rhythmus gekommen, habe die Kurven voll durchfahren können und am Ende habe alles gepasst, freute sich Wahner über Platz zwei im Tagesergebnis. Der Sieg im Großen Preis der Sparkasse Gießen ging nach 80 Runden aber an Fynn Brestel vom AVIA Racing Team. »Die sind taktisch echt klug gefahren, haben richtige Sprintzüge gefahren. Das war eindrucksvoll und von daher haben sie’s echt verdient«, sagte Wahner anerkennend. Auf Platz fünf fuhr Florian Anders (RSG Gießen und Wieseck).
Ohnehin versuchten viele der heimischen Starter, sich mit kleinen oder größeren Aktionen in Szene zu setzen. Der Wahl-Wiesecker Rico Libesch (TGV Schotten) zeigte sich an seinem Geburtstag ebenfalls angriffslustig und schnappte sich jeweils einen Punkte- und Prämiensprint, der ihn am Ende auf Platz elf brachte. Auf Platz 20 im Tagesergebnis war Leonhard Schneider von der RV Gießen-Kleinlinden nicht unzufrieden, schließlich ist der ehemalige Bundesliga-Fahrer berufsbedingt nicht mehr im vollen Trainingseinsatz. Luca Adler (TV Bad Orb), der wie Mountainbike-Kollege Libesch zum Studium nach Gießen gezogen ist, bescherte sich mit Platz 24 einen schönen Tag bei seinem empfundenen Heimrennen.
Schon heimisch fühlen dürfte sich Hanno Rieping auf dem Podium von »Rund um das Stadttheater«. Wie eine Wiederholung von vor zwei Jahren kam einem das Rennen vor. Rieping hatte sich nach der zweiten Wertung mit drei Mitstreitern im Rennen der Senioren II und III abgesetzt. Die Ausreißer vergrößerten ihren Vorsprung rasch und sammelten fleißig Punkte und Prämien. Die Verfolger sahen sie im letzten Drittel der angesetzten 50 Runden schon vor sich, doch eine Überrundung hätten sie zugunsten der Übersichtlichkeit des Rennens vermeiden wollen, sagte Rieping, der nach 2020 auch heuer gewann. Alles im Blick hatte auch Christian Schmidt (RSG Gießen und Wieseck). Als Mannschaftskollege von Rieping im Team pro-juventute. org sorgte Schmidt wie im Jahr 2020 für Rückendeckung bei den Verfolgern.
Was mit Teamarbeit möglich ist, zeigten auch die acht Fahrerinnen des Maxx Solar Lindig Woman Racingteams im Rennen der Frauen Elite und Elite FT über 50 Runden. Lydia Ventker, Katharina Fox (beide Maxx Solar Lindig), Mira Winkelhaag (One World Team) und Svenja Betz (Cycling Team VZW) waren ausgerissen und hatten ihre Verfolgerinnen überrundet. Ventker, Fox und Winkelhaag setzen sich mit der Überrundung gleich wieder an die Spitze und nahmen dem Hauptfeld in Summe zwei Runden ab. Der Tagessieg von Ventker vor Fox und Winkelhaag war zugleich ihr 100. Karrieresieg und ein empfundener Heimsieg, denn die Wurzeln des Frauen-Profi-Teams liegen viele Jahre zurück in den Anfängen als Bundesliga-Mannschaft der RSG Gießen und Wieseck.
Das konstant hohe Tempo bei »Rund um das Stadttheater« mit Durchschnittsgeschwindigkeiten um 44 km/h deckt jede konditionelle oder fahrerische Schwäche schonungslos auf, und auch die schnellen Kurven verzeihen keine Fehler. Das wurde über den Tag verteilt dreimal deutlich, doch die Stürze gingen letztlich glimpflich aus.
Das bunte Fahrradrennen mit 30 Teilnehmende und ein VIP-Rennen sorgten für zusätzliche Unterhaltung. Die Siegerehrungen dieser Wettbewerbe fanden auf dem Brandplatz statt und schufen damit eine Verknüpfung zur dortigen Auftakt-Veranstaltung der Aktion Stadtradeln in Gießen.
Tim Nissel mit »Tigersprung«
In den Nachwuchsrennen fielen die Entscheidungen für das Tagesergebnis nicht durch Punktesprints, sondern im Endspurt. Jugendfahrer Tim Nissel von der RV Gießen-Kleinlinden war in den Prämienspurts während des U17-Rennens über 40 Runden präsent und setzte mit einem sogenannten Tigersprung im Zielsprint ein Ausrufezeichen. Dass er dabei als Zweitplatzierter dem Sieger Fabian Taube (HRC Hannover) knapp unterlag, ärgerte den Kleinlindener. Vielleicht dürfte dieser knappe Ausgang etwas weniger schmerzen, wenn man sich deutlich macht, dass zu dem ungewohnt frühen Termin von »Rund um das Stadttheater« die Verfassung der Starter noch eine andere als zum traditionellen Termin in der zweiten Saisonhälfte ist.
Im abschließenden Rennen der Männer-Klasse Elite Amateure als »Großer Preis Stadt & Land Gießen Männer« über 100 Runden waren die Strapazen in den Gesichtern der Fahrer abzulesen. Benedikt Helbig (Embrace The World Cycling) war mit Nico Brenner (Kern-Haus) und Alexander Weifenbach (Colonia Kids) ausgerissen und hatte das Feld der Verfolger überrundet. Den Rennverlauf aus dem Jahr 2020 zu wiederholen, als Helbig mit eineinhalb Runden Vorsprung im Alleingang gewonnen hatte, gelang diesmal nicht: Florenz Knauer (Team 54x11) schnappte dem Trio in den kommenden Wertungen Punkte weg, sodass Helbig hinter Weifenbach und Brenner durch den Rundengewinn zwar auf dem Treppchen stand - aber diesmal als Dritter.
