110

In der Handball-Bundesliga zeugen mittlerweile 20 (!) sieglose Heimspiel-Wochen vom brutalen Absturz der HSG Wetzlar. Wer erinnert sich eigentlich noch an den 6. Oktober 2022 ? Da verließen die Grün-Weißen mit einem 32:24 über den TVB Stuttgart letztmals als Sieger das Parkett der Buderus-Arena.
Mit Kampf, Einsatz und Leidenschaft hatte die HSG Wetzlar die Wende herbeiführen wollen. Über den Kampf zum Spiel finden eben! Klingt abgedroschen, ist aber so im Existenzkampf der Handball-Bundesliga, in dem die Mittelhessen seit sage und schreibe über vier (!) Monaten kein Heimspiel mehr gewinnen konnten.
Aber auch am Donnerstag, im nächsten existenziellen Match in der Buderus-Arena vor 3000 Zuschauern gegen den HC Erlangen wurde der Bock nicht umgestoßen. Nicht nur das. Ebenso wie 14 Tage zuvor gegen die TSV Hannover-Burgdorf hätte man spätestens nach 50 Minuten die ›110‹ wählen müssen. Den bundesweit geltenden Notruf. 19:26 lagen die Adam Nyfjäll und Co. gegen die Franken zu diesem Zeitpunkt hoffnungs-, weil regungslos am Boden. Ebenso wie zwei Wochen zuvor, da hieß es gegen die Niedersachsen zehn Minuten vor Schluss 21:28 (!). Dass gegen Hannover-Burgdorf mit 24:31 und nun gegen Erlangen mit 28:35 verloren wurde, hat den Absturz in den Tabellenkeller als Rang-16. zwar nicht weiter beschleunigt, aber mit vernichtend vorgehaltenem Spiegel krass bestätigt.
Nachdem nun alle Appelle wirkungslos verhallt sind, nicht eine gelobte Besserung eingetreten ist und sämtliche Analysen fehlgeschlagen sind, stellt sich für die restlichen 13 Spieltage der Jubiläumsaison allein noch die Frage, welche lebenserhaltenden Maßnahmen nach den wiederholten ›110‹-Notrufen noch zu ergreifen sind.
Nach den ersten beiden amateurhaft verlorenen Eins-gegen-eins-Situationen gegen Erlangens Dampfmacher Nico Büdel zum 0:2 (3.) war es bereits vorbei mit der Wetzlarer »Über den Kampf zum Spiel finden«-Mentalität. In der 5:1-Formation öffnete Emil Mellegard körperlos mit Schritten nach hinten mehr als einmal das Einfallstor - und als Magnus Fredriksen nach einer Viertelstunde in Unterzahl (!) mit einem waghalsigen Kempa-Versuch (?) den Franken laienhaft das 9:6 ermöglichte, hielten sich Handballer-Kenner schon die Hand vor den Kopf.
Anstatt in einer Krisensituation Ruhe und Ordnung zu bewahren, über einstige Wandschneider-Spielzugautomatismen wie ›Lemgo rechts‹ oder ›Magdeburg links‹ unter Stress irgendwie Stabilität herbeizuführen bzw. Verunsicherung abzulegen, wurden die Aktionen von Minute zu Minute hektischer, zerfahrener, niveauärmer. Mit erhöhter körperlicher Präsenz sein Haus gegen den Eindringling zu verteidigen - Fehlanzeige. Mit eingespielter »Die linke Hand weiß was die rechte Hand tut«-Grundformation neues Selbstvertrauen erarbeiten - Fehlanzeige.
Kein ›Aggressive Leader‹ wie der ohne Rücksicht auf sich selbst agierende Nico Büdel bei den Gästen. In der Abwehr erneut mit großen Abräum-Problemen zwischen den Außen- und Halbspielern. Keine klaren Kreisaktionen bzw. umgekehrt Hilfestellungen für die Aufbaureihe. Kaum Spielzüge- und Konzeptionen im gebundenen Angriff. Keine Harmonie, kaum strukturierte Aktionen, nur Krampf statt Kampf. Dazu ein Stefan Cavor, der 24 Minuten auf der Bank verharren musste, ein Jonas Schelker gar 45, der 117-kg-Neuzugang Nikita Pliuto gar 60. Nichts war im Fluss bei den Grün-Weißen.
Dabei stand personell auf dem Parkett über das Pausen-14:17 und dem demoralisierenden 16:23 (40.) ein komplettes Wetzlarer Sextett (!), welches noch 30 Monate zuvor unter Trainer-Lebensversicherung Kai Wandschneider Rekordmeister THW Kiel mit 31:22 aus der Arena geworfen hatte: Till Klimpke, Emil Mellegard, Lenny Rubin, Stefan Cavor, Lars Weissgerber, Magnus Fredriksen. Eigentlich nicht zu begreifen.
Was nun? Selbst Geschäftsführer Björn Seipp setzt - bei aller berechtigten und verständlichen Kritik - einen ›110‹-Notruf an die Fans ab: »Der Blick mus nach vorn gerichtet werden. Die ganze Region muss zusammenrücken. Die Mannschaft braucht die Unterstützung. Wir werden alles Mögliche in Bewegung setzen, um den Klassenerhalt zu erzwingen. Ein Abstieg hätte gerade nach Corona- und Energiekrise sowie der hohen Inflation fatale, unabsehbare Folgen für unseren Handball-Standort.«
Nachdem es bereits verpasst wurde, im Verlaufe der in den Tabellenkeller führenden Vorrunde Publikumsliebling Maximilian Holst als emotionalen Leader zu reaktivieren, sollte fortan der nach Dormagen »verliehene« Ole Klimpke ein Thema werden, um u. a. in der 5:1-Formation den Kontrahenten körperlich mehr als wie beim ›Hallenhalma‹ zu beschäftigen.
Wer spielt den ersten Pass? Wer variiert das Tempo? Wer stellt die gegnerische Abwehr zurecht? Wer beseitigt die technischen Fehler? Wer sorgt für eine bessere Chancenverwertung? Wer stabilisiert den löchrigen Innenblock? Wer unterstützt die Torhüter? Gelingt es all diese Fragen zu beantworten, muss z. B. nach dem Kopftreffer gegen Erlangens Keeper Bertram Obling (40., 16:22) erst gar nicht mehr unnötig (weil regelkonform) und wütend über die Zeitstrafe gegen Adam Nyfjäll geflucht werden. Dann nämlich hätte der schwedische Kreisläufer frei stehend (!) sicher verwandelt.
Und vor allem muss schon beim Aufwärmen unmissverständlich klar werden, wer denn nun mit nur neun Punkten ums Bundesliga-Überleben kämpft. Am Donnerstag vermittelten diesen Eindruck die Erlanger, die deshalb nicht die ›110‹ wählen mussten.