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Kommentar zum Abstieg des FC Gießen: Zeit für Veränderungen - bloß wie?

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Von: Sven Nordmann

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FC Gießen verliert auch in Koblenz.
Abstieg besiegelt: Der FC Gießen mit Michael Fink, Kapitän Nikola Trkulja und Kevin Kling nach der Niederlage in Koblenz. © Vogler

Viel zu selten ist die auf dem Papier vorhandene Qualität des FC Gießen auch auf dem Rasen zu erkennen – der sportliche Abstieg ist schnell erklärt und kann eine große Chance darstellen.

Der Abstieg des FC Gießen, seit der Niederlage in Koblenz am Samstagnachmittag nun auch rein rechnerisch Gewissheit, ist die logische Folge der Gesamtentwicklung des Vereins. Mit dem Gang in die Hessenliga nähert sich der FC Gießen auch sportlich dem vorübergehenden atmosphärischen Tiefpunkt. Um diesen für einen fußballerischen Neuanfang und ein kulturelles Aufleben nutzen zu können, bedarf es tiefgreifender Veränderungen, die derzeit nicht zu erkennen sind.

Sportlich ist der Abstieg des heimischen Südwest-Regionalligisten schnell erklärt: Wer nach 34 Spieltagen Tabellenletzter mit den wenigsten Siegen und den am wenigsten erzielten Toren ist, hat wenig Argumente auf seiner Seite. Zu selten war die auf dem Papier vorhandene Qualität auch auf dem Rasen zu sehen.

FC Gießen als Gegenpart zu Eintracht Frankfurt

Der FC Gießen stellt somit gewissermaßen einen Gegenpart zu den Europa-League-Auftritten von Eintracht Frankfurt dar: Während die Adler über sich hinauswachsen und mehr herausholen, als möglich zu sein scheint, blieben die mit Zweit- und Drittliga-Erfahrung gepriesenen Kicker in Gießen unter ihren Möglichkeiten. Beide Vereine bestätigen damit die Kraft der Psychologie - zum Glück, könnten Fußball-Romantiker sagen, braucht es noch immer elf sich unterstützende Spieler. Den Eindruck einer echten Einheit erweckte der FC Gießen in dieser Regionalliga-Saison nicht.

Trainer Daniyel Cimen vom FC Gießen
Seit über 160 Partien auf der Trainerbank des FC Gießen: Daniyel Cimen steigt erstmals als Übungsleiter ab. © IMAGO/Oliver Vogler

Wie in der Vorsaison wurden zwei Spieler suspendiert (Nikita Marusenko und Jabez Makanda). Wenn zwei 20-jährige Neuzugänge ohne vorherige Senioren-Erfahrung und ein 40-Jähriger die sportlichen Leistungsstützen bilden, spricht das für Donny Bogicevic, Dennis Owusu und Michael Fink - aber nicht für eine gesunde Struktur innerhalb der Mannschaft.

+++ Lesen Sie auch: Die Emotionen nach dem Abstieg: „In der Kabine sind Tränen geflossen“ +++

Der Abstieg in die Hessenliga ist nüchtern betrachtet kein Drama und kann grundsätzlich sogar eine große Chance darstellen: Ein Hessenliga-Kader mit mehr Gießen im Blut, mehr Kampfgeist und Geschlossenheit würde kaum weniger Waldstadion-Besucher anlocken als ein auf Pump zusammengestellter Regionalliga-Kader mit semimotivierten Ex-Profis. Letztlich ist es egal, wo der FC Gießen spielt, solange die Zuschauer denn wüssten, wer mit Herzblut für den Verein spielt.

FC Gießen: Solide finanzielle Planung statt monatliche Zitterpartie bei Lohnzahlung

Eine Saison ohne finanzielle Querelen mit einem soliden 200 000-Euro-Budget abzuschließen, würde allen Beteiligten mehr helfen als sich im vierten Saison-Anlauf in Folge bei der Gehaltsstruktur zu übernehmen und die monatliche Lohnzahlung zur Zitterpartie werden zu lassen. Geführt hat das den FC Gießen schließlich auf den letzten Tabellenplatz.

Dass der FC Gießen eine positive Zukunft haben und sich mit einer anderen Führung auch wieder als Werbebotschafter der Stadt etablieren kann, steht außer Frage. Denn auch wenn dem FC Gießen seit Jahren Klarheit und Struktur fehlt: Der durch das nach wie vor zu lobende Engagement von Jörg Fischer hervorgebrachte Verein hat bewiesen, welch großes Fußball-Interesse in der Universitätsstadt schlummert. In der Aufstiegssaison 2018/19 kamen im Schnitt über 1700 Besucher - mittlerweile sind es noch rund 530 pro Heimspiel.

FC Gießen: Es braucht einen dienenden Vorstand ohne Ego

Die Kraft des zwischenmenschlichen Umgangs scheint man rund um den Verein allerdings noch immer nicht verstanden zu haben - der Hauptgrund für den Schwund der Zuschauer und das gestörte Klima. Gießen ist eben Gießen und nicht Berlin oder München - wer 20 teils prominenten Kreis-Fußballern vor den Kopf stößt, verliert so schnell Hunderte von Zuschauern. Wer die Presse ausschließt, sendet trennende statt einende Zeichen aus. Die Liste der unbeantworteten Fragen, die durch das Wirken von Notvorstand Turgay Schmidt entstanden ist, ist ebenso lang wie jene Liste von Menschen, die der Rechtsanwalt unnötig vergrault hat: selbst für das Internet zu lang.

Notvorstand Turgay Schmidt vom FC Gießen
Bringt keine Klarheit: Notvorstand Turgay Schmidt. © Oliver Vogler via www.imago-images.de

Und so steht vor der Frage, wie der Kader des FC Gießen in der Hessenliga-Saison 2022/23 aussieht und welche Rolle er dann, unter anderem in Konkurrenz zu Eintracht Frankfurts U23, spielt, die von vielen Zuschauern gestellte viel größere Frage: Wie geht es überhaupt weiter mit dem Verein? Dass es weitergehen muss, ist klar. Dass sich ein „Weiter so“ bis auf den allein vertretungsberechtigten Notvorstand kaum noch jemand so wünscht, ebenso.

Bloß wie?

Die Antwort ist klar: Nur ein dienender Vorstand, der vereint, sich nicht übernimmt und strukturell und sportlich (!) Philosophie und Richtung vorgibt, wird den FC Gießen dort hinführen, wo er stehen kann. Not (!)-Vorstand Turgay Schmidt ist das nicht. In vielen Punkten wurde die Not unter ihm nur größer - wirklicher Druck von den Mitgliedern verpufft oder fehlt zugleich. Ein schleichender Niedergang? Schmidt ist es jedenfalls nach nun eineinhalb Jahren Wirken „gelungen“, peu a peu ein Gefühl der Ohnmacht rund um den Verein aufzubauen.

FC Gießen: Ein vorläufiges Insolvenzverfahren als einzige Chance für einen Neuanfang?

Da die Fronten auf nahezu allen Ebenen derart verhärtet scheinen, dass ein gesunder Übergang aktuell unvorstellbar erscheint, dürfte ein Insolvenzantrag und ein vorläufiges Insolvenzverfahren weiterhin die einzige echte Zukunftschance des Vereins darstellen.

Nur durch eine tatsächlich neutrale (Führungs-) Instanz wie einen vorläufigen Insolvenzverwalter, der mit transparenten Zahlen neue Geldgeber anlocken und die Insolvenzgründe beseitigen könnte, kann eine auf allen Ebenen unbelastete Zukunft ermöglicht werden. Andernfalls droht der FC Gießen dauerhafte Altlasten anderer Art mit sich herumzuschleppen - und die Chance des Neuanfangs, für die der sportliche Abstieg symbolisch stehen kann, gänzlich zu verpassen. (Sven Nordmann)

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