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FC Gießen: Diese fünf Gründe haben zum Abstieg geführt

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Von: Sven Nordmann

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Kennen die Gründe für den Abstieg: Das Trainertrio des FC Gießen (v. l.) um Marco Vollhardt, Daniyel Cimen und Michael FInk. © Oliver Vogler

Ein Abstieg kommt selten einfach so: Der FC Gießen hat 2021/22 in der Fußball-Regionalliga gezeigt, dass er nichts aus der Vergangenheit gelernt hat. Und die Probleme beginnen schon wieder.

Nicht nur die Kaderzusammenstellung, auch die Gehaltszahlungen verspäten sich beim FC Gießen seit Jahren verlässlich - neben der unglücklichen Spielerauswahl und wenig Torgefahr der Hauptgrund für die fehlende Konstanz und den logischen Abstieg aus der Fußball-Regionalliga Südwest 2021/22. Fünf Gründe für die Misere.

1. Keine Konstanz auf allen Ebenen

Der am schwersten zu gewichtende Punkt, der alle anderen Facetten in sich vereint: Nie in der Saison agierte der FC Gießen über einen langen Zeitraum punktetechnisch konstant. Wer die weiteren Gründe für den Abstieg liest und kennt, wundert sich allerdings auch nicht über mangelnde Konstanz.

Zwei Beispiele: Dem Auftaktsieg in Walldorf folgten vier Niederlagen in Serie. Mit dem potenziellen Rückenwind eines 3:0-Heimsieges am 11. Dezember gegen Schott Mainz verliert Gießen danach 0:3 im Hessenpokal beim klassentieferen 1. FC Erlensse und geht mit einem 1:2 in Pirmasens in die Winterpause.

Aus dieser kehrt der FC motiviert, kommt über drei Start-Remis aber nicht hinaus - und gewinnt im Jahr 2022 insgesamt nur eine einzige Partie. Das ist erklärbar.

2. Verspätete Gehaltszahlungen und finanzielle Probleme

Am 22. November 2019 thematisierte diese Zeitung erstmals sich verspätetende Gehaltszahlungen beim FC Gießen - die Problematik hat sich über etliche Irrungen und Wirrungen vom Vorstands-Rückzug über Kurzarbeitergeld bis hin zum Gehaltsverzicht bis zum heutigen Tage im Mai 2022 fortgesetzt. Der neutrale Beobachter also könnte fragen: Hat der FC Gießen gar nichts gelernt?

Auch in der Saison 2021/22 warten die Spieler mehrmals weit über das Monatsende hinaus auf ihr Gehalt. Über die Gründe hat sich Notvorstand Turgay Schmidt bis heute nicht geäußert.

Klar ist: Ein Teil des Saisonübels liegt hierin begründet. Anstatt zurückhaltend zu agieren, übernahm sich der FC erneut. Mit dem kostspieligen Kader manövrierten sich Schmidt und Trainer Daniyel Cimen selbst in die Bredouille. Ein schnelles Auto zu kaufen, ohne es verlässlich betanken zu können, ist nun mal begrenzt zufriedenstellend.

Cimen selbst sagt angesprochen auf die verspäteten Zahlungen: »Solche Geschichten sind nicht förderlich und kosten Prozentpunkte.«

Schon im alten Jahr 2021 trübte das die Stimmung innerhalb der Mannschaft. Im neuen Jahr führte es schließlich dazu, dass mehrere Spieler gar arbeitsrechtliche Schritte gegen den Verein einleiteten - ist das die Grundlage für einen gemeinsamen Kampf um den Klassenerhalt?

3. Späte Kaderzusammenstellung und personelle Ausfälle

Auch hier: Am 21. Juni 2019 erklärte Trainer Cimen in Bezug auf die Kaderzusammenstellung: »Wir sind spät dran.« Knapp drei Jahre später hat sich nichts daran geändert. Auch vor der Saison 2021/22 fügte sich die Mannschaft des FC Gießen häppchenweise teilweise erst während der Spielzeit.

Automatismen einzustudieren, einen echten Teamspirit aufzubauen und durch klare Strukturen und Hierarchien im Abstiegskampf zu punkten, war somit kaum möglich.

Das erste Ligaspiel stieg am 14. August. Benedict dos Santos etwa kam am 6. August zum FC Gießen, Marian Sarr am 7. September, Kevin Kling am 22. November und Jabez Makanda am 31. Januar des Folgejahres. Die drei Japaner Ryunosuke Takehara, Takero Itoi und Ko Sawada mussten lange auf ihre Spielberechtigung warten und konnten erst im Spätherbst 2021 mitwirken.

Hinzu kommt: Gleich zweimal rollt eine interne Corona-Welle durch das FC-Lager, die Spieltagsvorbereitung wird zeitweise zum Abenteuer, wie Michael Fink am 27. November 2021 erklärt: »Das Gesundheitsamt wusste nichts, wir wussten nichts. Es war Chaos. Am Freitag hat das einzige echte Training vor dem Spiel am Samstag stattgefunden.« Cimen: »Bei der zweiten Welle hatten wir 20 positive Fälle.«

Bitter: Auch in diesem Sommer steht der FC vor den gleichen Problemen. Cimen sagt Anfang Mai, in dem viele Vereine schon weit fortgeschritten sind: »Aktuell gibt es noch keine Kaderplanung.« Die Geschichte droht also, sich zum vierten Mal zu wiederholen.

4. Bei Spielerauswahl vielfach auf’s falsche Pferd gesetzt

Immer wieder fragen Vereinsmitarbeiter anderer Regionalligisten beim Besuch im Waldstadion, warum dieser hochkarätig besetzte Viertliga-Kader im Tabellenkeller steckt. Die schlichte Antwort: Weil die gepriesenen Ex-Profis entweder nicht auf dem Platz standen oder dort nicht das ablieferten, was ihre Vita versprach. Dass ein Team mit Frederic Löhe, Marian Sarr, Michael Fink, Nikola Trkulja, Ko Sawada, Nejmeddin Daghfous und Giuseppe Burgio im Kader Tabellenletzter wird, spricht nicht mehr für die Leistungsklasse der einst hoch veranlagten Fußballer.

»Einige Leistungsträger, die wir als solche eingeplant haben, konnten die Erwartungen leider nicht erfüllen«, räumt Cimen ein. Sinnbildlich dafür steht der 35-jährige Nejmeddin Daghfous (144 Zweitliga-Spiele), der in dieser Saison bei keinem einzigen der 14 Einsätze einen Unterschied machte. Cimen nimmt den Tunesier in Schutz: »Er hat in den zwei Jahren bei uns Verletzungen und Krankheiten gehabt, die man keinem wünscht. Das ist ab einem gewissen Alter dann nicht förderlich.«

Menschlich verständlich, sportlich ärgerlich. So lässt sich festhalten: Der FC hat desöfteren auf’s falsche Pferd gesetzt. Auch, weil gleich zwei Spieler (Nikita Marusenko und Jabez Makanda) suspendiert wurden - kein Ausdruck einer gesunden Teamchemie.

5. Wenig Torgefahr und schmerzliche Abgänge

Die Suche nach der Durchschlagskraft zieht sich wie ein roter Faden durch die drei Regionalliga-Jahre: Während in der Hessenliga 2018/19 mit 114 Treffern (3,5 Tore pro Spiel) noch alles in Grund und Boden geschossen wurde, zappelte der Ball in der Südwest-Staffel selten im gegnerischen Netz. 2019/20 waren es 0,95 Treffer pro Spiel, 2020/21 dann bessere 1,2, in der Abstiegsspielzeit nun nur 0,79 Tore pro Spiel: Schwächster Liga-Angriff.

Der Sportliche Leiter Christian Memmarbachi meint: »Wir haben einige Gegner an die Wand gespielt, aber die Tore einfach nicht geschossen. Es lag an der Effektivität.«

Gießens bester Saisontorschütze Donny Bogicevic (sechs Treffer) ließ sich im Unfrieden mit dem Verein aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig an der Hüfte operieren und fiel seit Mitte März aus.

Im Vorjahr stellte die Gießener Defensive um die Innenverteidiger Marco Boras und Hendrik Starostzik die siebtbeste Abwehr der Liga - beide gingen im Sommer. Ein Merkmal in Gießen: Wirklich gute Spieler bleiben selten oder müssen gehen.

So ergibt sich das Paradoxum im Sturm: Der FC hatte treffsichere Angreifer, ließ sie aber gehen. Damjan Marceta erzielte in drei Spielzeiten für den FC Homburg 20 Tore, Jake Hirst in zwei Jahren beim FSV Frankfurt 18 Treffer. Beide wären im Schnitt heruntergerechnet also in dieser Saison beste FC-Schützen gewesen.

Diese bittere Tradition droht sich fortzusetzen: Der Vertrag von Gießens begabtestem Stürmer, Giuseppe Burgio (vier Treffer in 13 Einsätzen) gilt nur für die Regionalliga. Fraglich, ob der in Mannheim lebende 33-Jährige bei sicher geringeren Konditionen Lust auf die Hessenliga im Waldstadion verspürt.

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