Eigentlich hatte Chris Müller beste Voraussetzungen. Sein Bachelor-Abschluss in International Management an einer Frankfurter Privatschule war der zweitbeste seines Jahrgangs. »Ich bin sehr privilegiert aufgewachsen. Geld war nie ein Problem, und ich war voll auf dem Karrierepfad«, gibt er offen zu, und man glaubt ihm sofort. Wenn der Bad Nauheimer spricht, sprudelt er vor Energie, wirkt fokussiert. Hin und wieder wechselt er ins Englische. In einem Auslandsjahr in China habe er »ein Start-up gepitcht, das von einem der größten Hedge Fonds des Landes gefundet wurde«, sagt er. Zu deutsch: Seine Idee kam gut an und wurde finanziell unterstützt. »Ich war voll in der monetären Schiene, kam zurück nach Deutschland und wollte einen Master an einer Elite-Uni machen«, sagt er.
Wendepunkt im Assessment Center
Dann kam der Wendepunkt. »Bei den Assessment Centern war nur analytisches Denken gefragt«, sagt er. Die Auswahlverfahren, die in mehreren Runden Bewerber auf ihre Eignung testen, würden das Persönliche und Kreative nicht berücksichtigen. »Das fand ich ungerechtfertigt.« Also zimmerte sich »White Rabbit« sein eigenes Master-Programm zusammen. »White Rabbit« hat er sich genannt – das ist ihm wichtig – weil er sich nicht selbstdarstellen möchte. Er will ermutigen, es ihm gleichzutun. »Vielleicht nicht so extrem, aber einfach rauszukommen und was anderes zu machen. Unser Bildungssystem lässt diesen Anteil vermissen.«
Also bereiste er zwölf Monate lang die Welt, »jeden Monat habe ich mir eine Challenge gestellt«, also eine Aufgabe. »Ich bin so ehrgeizig veranlagt, dass ich immer auf etwas hinarbeiten muss«, sagt der 27-Jährige über seine Weltreise »die eher nach innen ging«. Es ging ihm darum, aus dem Rationalen auszubrechen und Dinge zu probieren, die er schon immer probieren wollte.
So tanzte er im ersten Monat täglich bis zu sechs Stunden Salsa im kolumbianischen Cali, der Hauptstadt des Salsa. »Da merkt man als Deutscher erstmal, wie unbeweglich man ist«, sagt er und lacht. Die Zielauswahl sei intuitiv gewesen, oft flog er, ohne am Zielort etwas zu buchen. Gerade am Anfang habe er Zweifel gehabt. »Man bekommt bei solchen Sachen eingetrichtert: Du hast eine Lücke im Lebenslauf. Du gibst Geld aus, verdienst aber nichts.« Mittlerweile könne er darüber lachen.
Magie im Regenwald
In Monat zwei programmierte der Bad Nauheimer eine Website, auf der er nun von seinen Erlebnissen berichtet. Es folgte ein Roadtrip durch die USA, in Monat vier entledigte er sich beim Tauchen vor Hawaii seiner Angst vorm offenen Meer. Die Monate fünf und sechs verbrachte er mit Schamanen im peruanischen Regenwald, abseits jeglicher Zivilisation. Auslöser war eine Dokumentation über todkranke Menschen, die im Regenwald aber Heilung fanden. Der Kontakt kam über einen Russen zustande, dem es so erging. Wie ist das möglich? »Das kann man sich nicht erklären, da kommt bei mir das Rationale wieder durch. Das war Magie«, sagt »Rabbit«.
Gleiches sagt er über einen Moment in einer Dunkelkammer in Thailand, in der er sieben Tage unter anderem die Meditationsform Qi-Gong ausübte. Bei einer Übung sei er ins Universum abgedriftet und für einige Minuten nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen. »Das war wahnsinnig powerful. Ich weiß, dass sich das bescheuert anhört. Aber es ist so gewesen. Ich will auch nicht völlig ins Spirituelle übergehen, aber ich glaube an eine Balance mit dem Rationalen. Das würde unserer Welt, die von Materialisten beherrscht wird, gut tun.«
Harvard-Kurs im Campingwagen
Für diese Sichtweise sorgte auch ein Monat in Äthiopien und Kenia, wo er soziale Projekte unterstützte und mit einem Massai-Stamm lebte, der ihn auch aufgenommen. In Australien absolvierte er aus einem Campingwagen heraus einen Online-Kurs über Buddhismus an der Harvard-Universität in Boston. Den Abschluss in Deutschland bildete ein Experiment, bei dem er mit zwei Euro täglich auf der Straße lebte.
Seine Erfahrungen will er nun teilen. Dabei helfen sollen seine Website und ein Buch, das er schreiben möchte. Und was ist mit seiner Karriere? »Selbst wenn ich wieder zum Business-Menschen werde, habe ich in dem Jahr viel gelernt, um immer wieder zu mir zu finden.«