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Ukraine-Krieg: Sicherheitsexperte nennt drei Gründe gegen Putins Generalmobilmachung

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Von: Marcus Giebel

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Soldaten marschieren in einer Reihe
Generalmobilmachung in Russland? Noch bereiten sich die jungen Soldaten nur auf die Parade zu Tag des Sieges über Nazi-Deutschland vor. © IMAGO / ZUMA Wire

Im Ukraine-Krieg macht derzeit das Wort Generalmobilmachung die Runde. Würde Wladimir Putin so weit gehen? Ein Sicherheitsexperte glaubt nicht daran - und erklärt auch, warum.

München - Nicht wenige Menschen würden wohl vieles dafür geben, wenn sie sich in den Kopf von Wladimir Putin hineinversetzen könnten. Um seine konkreten Gedanken zu lesen. Seine weiteren Pläne zu kennen. Sich auf die nächsten Entwicklungen im Ukraine-Krieg besser vorbereiten zu können. Und nicht zuletzt angemessen reagieren zu können. Vor allem natürlich besonnen, aber keineswegs furchtsam.

Seit Wochen stellt sich die Welt und vor allem der Westen die Frage: Lässt der Kreml-Chef die Lage weiter eskalieren? Würde er in letzter Konsequenz tatsächlich einen Atomkrieg vom Zaun brechen, der ziemlich sicher auch sein Ende bedeuten würde? Wozu ist der 69-Jährige fähig, wenn es darum geht, seine Macht zu festigen und auszubauen?

Generalmobilmachung im Ukraine-Krieg? Sicherheitsexperte glaubt nicht daran

Dmitri Alperowitsch hat seine Gedanken zu Putin nun ausführlich auf Twitter zum Ausdruck gebracht. Der in Moskau geborene US-Unternehmer hatte sich bereits in der jüngeren Vergangenheit Gehör verschafft. So sagte er kurz vor Weihnachten voraus, dass Russland in den letzten Winterwochen seine Invasion in die Ukraine starten würde. Schon damals beschrieb er die Aussichten auf eine Deeskalation seitens Putins, der seinerzeit erste Truppen an der Grenze stationiert hatte, als gering.

Diesmal bietet Alperowitsch nicht ganz so grausige Aussichten - zumindest im Vergleich zu den Befürchtungen mancher Experten, der Großangriff auf den Donbass könnte erst in den kommenden Tagen seine volle Wucht entfalten. „Ich lehne mich so weit aus dem Fenster, dass ich sage, Putin wird weder am 9. Mai noch in naher Zukunft zu einer Generalmobilmachung aufrufen“, twitterte der Sicherheitsexperte.

Putins Taktik im Ukraine-Krieg: Drei Gründe sprechen gegen Generalmobilmachung

Allerdings fügte er direkt hinzu, diese Vorhersage könne auch falsch sein. Er sei nicht da nicht so sicher wie bei seiner Invasions-Prognose. Doch Alperowitsch nennt drei Gründe, warum es für Putin keinen großen Sinn machen würde, deutlich mehr Militär aufzufahren.

Da wäre zunächst der Punkt, dass der russische Präsident keine Großoffensive fortsetzen müsse, um dem eigenen Volk die sogenannte Spezial-Operation als Erfolg zu verkaufen. Denn er könne für sich reklamieren, die Ukraine durch die Zerstörung von militärischer und industrieller Infrastruktur demilitarisiert und durch den Sieg über das Asow-Regiment in Mariupol entnazifiziert zu haben. Obendrein „unser Volk“ im Donbass und auf der Krim durch die Erweiterung des Territoriums und die Schaffung eines Landkorridors geschützt zu haben.

Russland und der Ukraine-Krieg: „Wahrheit muss niemals einer guten Geschichte im Weg stehen“

Mit Hilfe der Medien unter seinem Befehl kann Putin dies alles simpel als Sieg verkaufen, mutmaßt Alperowitsch: „Die Wahrheit muss niemals einer guten Geschichte im Weg stehen, die die russische Öffentlichkeit so gerne konsumiert.“ Klar, die eigene ist immer noch die beste Wahrheit - darauf können sich dann doch die meisten Menschen einigen. Wer hört nicht nur das gern, was ihm gefällt, weil es Vorteile bringt?

Allerdings befürchtet Alperowitsch, dass selbst die Ausrufung des Siegs durch Putin nicht das Ende der Kämpfe in der Ukraine bedeuten würde. Denn: „Erinnern wir uns daran, dass er mehrfach den Sieg in Syrien ausgerufen hat und die Operationen dort bis zum heutigen Tag fortgeführt werden.“

Putin und sein Ukraine-Krieg: Soll die Wirtschaft anhaltend geschwächt werden?

Realistisch sei, dass sich die Invasoren fortan auf die Verteidigung des eroberten Territoriums konzentrieren, selbst aber keine zusätzlichen Landgewinne mehr erwägen würden. Zu rechnen sei jedoch mit gelegentlichen Angriffen auf die ukrainischen Städte, so dass sich dort niemand sicher fühlen kann, und einer anhaltenden Blockade des Schwarzen Meers, um die Wirtschaft des Landes weiter zu schwächen.

Das klingt dann doch nach einer lang anhaltenden Rache dafür, dass Putins Truppen nach dem Einmarsch nicht wie Befreier begrüßt wurden und der Kreml in Kiew eine ihm gewogene Marionetten-Regierung installieren konnte. In den Augen des starken Mannes in Moskau soll die Ukraine nie wieder auf die Beine kommen.

Video: Russland meldet Simulation von Atomangriff

Ukraine-Krieg: Generalmobilmachung wäre für Putin „politisch sehr heikel“

Alperowitschs zweiter Grund, warum eine Generalmobilmachung Russlands wohl nicht bevorsteht, zielt auf das damit verbundene Risiko für Putin. Denn dieser Schritt wäre „politisch sehr heikel“. Dabei verweist er auf den Russland- und Militär-Experten Michael Kofman, der als Folgen eine Ausweitung der derzeit noch begrenzten Kriegsziele und möglicherweise erhebliche und nicht wegzudiskutierende Verluste in den eigenen Truppen nannte.

Zudem wäre es schwierig, der Bevölkerung den Sinn einer Generalmobilmachung zu näherzubringen, da diese doch seit Beginn der Invasion von vielen angeblichen Erfolgen und einer planmäßig verlaufenden Operation zu hören bekommt. In Alperowitschs Augen würde also eine deutliche Truppenverstärkung nur damit zu erklären sein, einen weiteren Angriff auf Kiew oder Odessa zu riskieren. Doch es wäre töricht von Putin, davon auszugehen, dass Militärkommandeur Waleri Gerassimow und Verteidigungsminister Sergej Shoigu diesmal mehr Erfolg hätten, schreibt er weiter.

Putins Plan im Ukraine-Krieg: Bislang kämpfen und sterben vor allem Russen aus armen Dörfern

Vielmehr müsste auch der Kreml-Chef seine Lehren aus den Kriegswochen gezogen haben. Etwa, wie schwierig es sich gestaltet, Regionen zu erobern und dann auch zu halten. Hinzu kommt: „Er wird sicher den Glauben daran verloren haben, was der FSB ihm über russische Agenten in der Ukraine gesagt hat, die schnell die Regierung übernehmen könnten. Selbst wenn er Kiew einnehmen könnte, wäre die Einsetzung einer Marionetten-Regierung, die das Land wirklich regiert, nahezu unmöglich.“

Für Alperowitsch funktioniert die Propaganda von der erfolgreichen Spezial-Operation auch deshalb so gut, weil gelte: „Die meisten Familien kennen niemanden, der dort kämpft und stirbt (die meisten Soldaten kommen aus armen Dörfern und ethnischen Minderheiten). Eine Generalmobilmachung würde das ändern und wäre deshalb sehr riskant.“

Zwar habe Putin mit dem Krieg viel aufs Spiel gesetzt, aber eben nicht seinen Machterhalt, der ihm nach wie vor sicher ist. Immerhin haben die vergangenen Wochen seiner Popularität in der Bevölkerung laut Umfragen gut getan - womöglich auch wegen der Sanktionen aus dem Westen, der vielen Russen nur noch fremder zu werden scheint.

Panzer rollen durch eine Straße
Panzer-Kolonne: In Russland laufen die Vorbereitungen für die Militärparade am 9. Mai. © KIRILL KUDRYAVTSEV/afp

Ukraine-Krieg und Putin: Drängt Selenskyj sogar zum Ende der Sanktionen gegen Russland?

Alperowitschs letzter Punkt bezieht Wolodymyr Selenskyj mit ein. Denn Putin könne darauf hoffen, dem ukrainischen Präsidenten auch ohne eine weitere Offensive massive Zugeständnisse abzuringen. Eben dadurch, dass ein Teil des Landes besetzt bleibt, immer wieder Luftangriffe drohen und der Handel über den Wasserweg eingeschränkt wird.

Auch Selenskyj muss nach all den Erlebnissen und schrecklichen Erfahrungen irgendwann mürbe werden. Da wäre es wohl keine wirkliche Überraschung, würde er trotz seines stolzen und forschen Auftretens an einem Punkt das kleinere Übel wählen, um zusätzliches Leid von der Bevölkerung und dem ganzen Land abzuwenden.

Womöglich drängt Selenskyj den Westen im Zuge eines Abkommens sogar dazu, die Sanktionen gegen Russland zu lockern, nennt Alperowitsch eine regelrecht skurril anmutende Möglichkeit. So könnte Putin freilich denken, sich damit aber auch verkalkulieren. Die Chancen aus seiner Sicht stünden aber deutlich besser, wenn er auf eine Generalmobilmachung verzichtet.

Propaganda im Ukraine-Krieg: Nicht nur das russische Volk wird vor der Wahrheit geschützt

Sicher ist aber gar nichts. Gerade in Kriegszeiten. Deshalb betont Alperowitsch auch, Putin könne künftig auf freiwillige Kämpfer setzen oder als Lockmittel den Sold erhöhen: „Allerdings wird das für das russische Militär keinen wesentlichen Unterschied machen.“

Am Ende seines Twitter-Threads sorgt Alperowitsch noch für den Fall vor, dass doch alles anders kommt: „Sollte ich damit danebenliegen, wäre das wohl damit zu erklären, das Putin völlig isoliert ist, und keine Ahnung hat, was wirklich in diesem Krieg passiert, da ihm niemand mehr die Wahrheit sagt.“

Insofern ist der Kreml-Chef mutmaßlich auch ein Opfer seiner eigenen Propaganda geworden. Wie das russische Volk bekommt auch er seit Wochen augenscheinlich nur das zu hören, was von seinem Umfeld für seine Ohren als wirkliche Wohltat eingestuft wird. Wie weit das von der Wahrheit entfernt ist, wissen nur seine Informanten. (mg)

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