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Ukraine-Krieg: Entschlossene Bürger, „demoralisierte“ Soldaten - Warum Putins Truppen kaum vorwärts kommen

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Von: Patrick Mayer

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Für Russland verläuft der Krieg in der Ukraine nicht wie geplant. Das hat offenbar mit Fehleinschätzungen von Wladimir Putin zu tun. Und mit dem Machtzirkel in Moskau selbst.

München/Moskau - Der Angriff Russlands auf die Ukraine* sorgt international für Entsetzen. Doch: Nach Tag vier des russischen Einmarsches scheint es so, als habe sich der russische Machthaber Wladimir Putin zumindest teilweise verschätzt. Verschiedenen Medienberichten zufolge stecken die Einheiten Moskaus vor allem in Norden der Ukraine fest und werden von den ukrainischen Verteidigern immer wieder zurückgeschlagen. Angeblich teils unter hohen Verlusten der Invasionstruppen.

Während Hunderttausende in Europa, zum Beispiel in Berlin, auf den Straßen gegen den Ukraine-Krieg protestieren, gibt es erste Analysen dazu, warum die als überlegen eingeschätzte russische Armee sich vor den Großstädten Kiew (rund 2,8 Millionen Einwohner) und Charkiw (rund 1,4 Millionen Einwohner) so schwer tut. IPPEN.MEDIA listet mögliche Gründe sowie aktuelle Einschätzungen auf:

Ukraine-Krieg: Ukrainische Streitkräfte leisten erbitterten Widerstand gegen Einmarsch Russlands

Kampfkraft der ukrainischen Armee: Die Regierung in Kiew vermeldet Tag für Tag neue Zahlen angeblicher russischer Verluste im Ukraine-Krieg, während Moskau mutmaßliche Gebietsgewinne kundtut. In der Nacht von Samstag auf Sonntag war auf ukrainischer Seite von angeblich 3.500 getöteten russischen Soldaten die Rede, am Sonntag (27. Februar) wurden bereits 4.300 gemeldet. Zudem hätten die Armee und die Kräfte zur territorialen Verteidigung angeblich 102 russische Panzer und 530 weitere Militärfahrzeuge zerstört. Hinzu kämen nach Angaben aus Kiew acht abgeschossene Hubschrauber und 14 abgeschossene Flugzeuge des Gegners. Es sind Zahlen, die sich in der aktuellen Lage nicht durch unabhängige Beobachter verifizieren lassen.

Am Sonntag berichtete die Nachrichtenagentur AP, US-Quellen bestätigten den Abschuss zweier russischer Transportmaschinen bestätigen. Die Maschinen sollten angeblich Spezialkräfte ins Land bringen. Auf Social Media sind Videos zerstörter und brennender Militärfahrzeuge zu sehen, die sich nach Fabrikat der russischen Armee zuordnen lassen. Zudem gab das russische Verteidigungsministerium am Sonntag 27. Februar, erstmals zu, dass eigene Soldaten bei den Kämpfen ums Leben gekommen seien. Ferner mehren sich die Berichte, wonach die ukrainische Armee immer wieder Angriffe der Russen zurückschlagen kann - unter anderem im schwer umkämpften Charkiw und nördlich von Kiew. Auch die Stadt Mariupol im Süden des Landes war am Sonntagabend nach offiziellen US-Einschätzungen „gut verteidigt“.

In Charkiw gelang es ukrainischen Einheiten angeblich, russische Truppen zurückzuschlagen. „Die Kontrolle von Charkiw gehört komplett uns“, schrieb Gouverneur Oleh Synyehubow auf Twitter und fügte hinzu: „Der russische Feind ist absolut demoralisiert.“ General Keith Kellog, der ein Berater des Ex-Präsidenten Donald Trump war, sagte dem amerikanischen Sender Fox News: „Putin hat diesen Krieg verloren. Ich glaube, Russland wird verlieren.“ Hinter diesen Äußerungen könnte gleichwohl auch ein Stück weit Wunschdenken oder Taktik stecken.

Ein völlig zerstörtes Militärfahrzeug nahe der ukrainischen Großstadt Charkiw.
Ein völlig zerstörtes Militärfahrzeug nahe der ukrainischen Großstadt Charkiw. Das Radfahrzeug lässt sich keiner Konfliktpartei genau zuordnen. © IMAGO / Ukrinform

Ukraine-Krieg: Ukrainische Bevölkerung stellt sich russischen Truppen in den Weg

Kampfeswille der ukrainischen Bevölkerung: Nicht nur die Schlagkraft der vermeintlich unterlegenen ukrainischen Armee hat Russland offenbar unterschätzt, sondern auch den Willen der Bevölkerung. Präsident Wolodymyr Selenskyj* hatte seine Landsleute zu den Waffen gerufen und den Kriegszustand verhängt. Ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen. Im Internet gehen Videos viral, wie sich mutige Bürger vor Panzer der Invasionstruppen stellen, damit diese nicht weiter vorrücken können. Oder wie sie auf der Straße mutmaßlich russische Soldaten mit der Frage konfrontieren, was sie in ihrem Land eigentlich zu suchen hätten.

Am Wochenende zeigte sich der frühere Ukraine-Präsident Petro Poroschenko (2014 bis 2019) im Interview mit dem amerikanischen Sender CNN als Mitglied einer Einheit zur territorialen Verteidigung, bewaffnet mit einer Kalaschnikow. Unzählige Bürger sollen sich übereinstimmenden Berichten zufolge freiwillig gemeldet haben, um an der Seite ihrer Soldaten gegen den Aggressor zu kämpfen. In einem Interview erzählte der frühere Box-Champion Wladimir Klitschko, dass auch zahlreiche Frauen darunter seien. Bruder Vitali Klitschko ist der Bürgermeister der Hauptstadt Kiew. Beide versprachen immer wieder, ihr Land notfalls „bis aufs Blut“ verteidigen zu wollen.

Im Video: Bürgermeister Vitali Klitschko - Lage in Kiew unter Kontrolle

Ukraine-Krieg: Moral innerhalb Putins Streitkräfte schwindet angeblich - Russen mit Versorgungsproblemen

Angeblich geringe Moral innerhalb russischer Streitkräfte: Bilder, Videos und Berichte aus den umkämpften Gebieten könnten darauf hindeuten, dass es sich bei den Truppen Moskaus vor allem um junge Rekruten handelt. Das ukrainische Verteidigungsministerium veröffentlicht Videos mit russischen Gefangenen, die erzählen, dass sie eigentlich in ein Manöver geschickt wurden - diese Praxis wird von Russland allerdings als Verstoß gegen Kriegsrecht gerügt.

Ein Video zeigt laut der „Tagesschau“ der ARD einen russischen Soldaten, der nun sogar bereit dazu sei, überzulaufen. Der Bericht verweist allerdings auch darauf, dass die Aussagen auch unter Zwang geäußert sein können. Unabhängig davon haben die russischen Truppen offenbar mit erheblichen Versorgungsengpässen und Nachschub-Problemen zu kämpfen. So veröffentlichte zum Beispiel die Bild ein Video, dass eine aberwitzige Szene zeigen soll. Zu sehen sind Kettenfahrzeuge, die auf einer Straße zum Stehen gekommen sind. Ein Autofahrer hält an und fragt demnach die Soldaten, die daneben stehen: „Fahrzeug kaputt? Soll ich euch zurück nach Russland schleppen?“ Angeblich ging den Panzern auf dem Weg nach Kiew der Treibstoff aus.

Auch Berichte über eine sich ergebende russische Militäreinheit* machten zuletzt die Runde. Allerdings gilt auch hier: Verifizierte Informationen sind aus den Gefechtsgebieten der Ukraine kaum zu erhalten.

Ukraine-Krieg: Fehleinschätzungen von Wladimir Putin - nur Ja-Sager in Moskau

Fehleinschätzung von Wladimir Putin und Ja-Sager-Mentalität in Moskau: Sowohl die US-amerikanische Regierung in Washington als auch die britische Administration in London kolportieren mittlerweile, dass Putin und Moskau offensichtlich den Kriegsverlauf falsch eingeschätzt hätten. Eine ähnliche Einschätzung äußerte FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann.

Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace hatte Putin zuletzt sogar öffentlich als „völlig irre“ bezeichnet. „Sie treffen auf mehr Widerstand, als sie erwartet haben“, erklärte ein Vertreter des amerikanischen Pentagons in einem Briefing zum Ukraine-Krieg und russischen Angriff am Samstag. Die Truppen seien nicht „so weit oder so schnell vorgedrungen, wie wir angenommen hatten“.

Die „Tagesschau“ der ARD stellt eine Theorie auf: Demnach habe sich Putin in den vergangenen Jahren im Kreml mit Ja-Sagern umgeben, die keine Widerworte geben. Dies habe für den russischen Präsidenten nun negative Konsequenzen. (pm) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA

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