Ukraine-Konflikt: Dient ein angeblicher Genozid im Donbass als Vorwand für den Krieg?

Russlands Präsident Wladimir Putin spricht von einem angeblichen Genozid im Donbass. Dies könnte ein Vorwand für einen Einmarsch in die Ukraine sein. Was dahintersteckt.
Moskau – Bereits seit Wochen wird von russischer Seite die Drohkulisse aufgebaut, die Ukraine* könnte einen Angriff auf die prorussischen Separatisten im Donbass, die umkämpfte Region in der Ostukraine, starten. In der gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz* (SPD*) am Mittwoch (16.02.2022) sprach der russische Präsident Wladimir Putin* von einem „Genozid“, der in der Ostukraine verübt werde. Belege nannte er nicht. Und Scholz widersprach dieser Behauptung erstmal nicht. Später sagte er: „Das ist ein heftiges Wort. ... Es ist aber falsch.“
Es war bei Weitem nicht das erste Mal, dass Putin oder sein Außenminister Sergei Lawrow mit Blick auf den Donbass von Völkermord sprechen. Fachleute vermuten, mit der Behauptung, es gebe einen Genozid an Russinnen und Russen in der Ukraine, könne im derzeit tobenden Ukraine-Konflikt jederzeit ein Vorwand für einen Einmarsch russischer Truppen geschaffen werden.
Laut dem Nachrichtensender n-tv startete das russische Ermittlungskomitee am Mittwoch ein Verfahren gegen die Ukraine wegen angeblicher Misshandlung der Zivilbevölkerung und Einsatz tödlicher Waffen gegen Zivilistinnen und Zivilisten im Donbass. Russischen Angaben zufolge haben die Separatisten zwischen August und Oktober 2021 fünf Massengräber mit insgesamt mindestens 295 Toten gefunden.
Angeblicher Genozid im Donbass - Russische Medien mit scharfer Rhetorik
Inzwischen wird das Thema eines angeblichen Völkermordes im Donbass vermehrt von den russischen Medien aufgegriffen und auch scharfe Rhetorik verwendet. Die örtliche Bevölkerung spreche bereits seit acht Jahren über einen von Kiew organisierten Genozid, berichtet die staatliche Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja aus dem Donbass. Dmitri Kiseljow, Chef der Nachrichtenagentur, sprach am Wochenende laut Tagesschau davon, dass in der Region Donbass Zivilistinnen und Zivilisten „gefoltert und grausam getötet“ würden.
Margarita Simonjan, Chefredakteurin des Senders RT, sagte laut n-tv in der Abendtalkshow des russischen Chefpropagandisten Wladimir Solowjow: „Die Weltöffentlichkeit hat, aus welchem Grund auch immer, vergessen, dass der Krieg in der Ukraine seit acht Jahren läuft, und das ist eigentlich ein Krieg der ukrainischen Regierung gegen die eigene Bevölkerung.“ Russland* könne es sich nicht erlauben, diesen Krieg nicht zu stoppen., erläuterte sie weiter.
Krieg in der Donbass-Region seit 2014
Ein Genozid gilt als legitimierter Grund für ein militärisches Eingreifen. In der einschlägigen UN-Konvention von 1951 haben sich die Mitgliedstaaten zur „Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ verpflichtet. Darin ist ein Genozid definiert als „Handlung, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören“.
Im Donbass geht es nach russischer Lesart um russischstämmige oder russischsprachige Menschen, die nach ethnisch-kultureller und politischer Autonomie streben. Die ukrainische Regierung unterdrücke diese Gruppe angeblich und drohe mit ihrer Vernichtung. Schon der Beginn des Krieges in den Regionen Donezk und Luhansk 2014 war aus Kreml-Sicht eine Folge legitimen Widerstands gegen ein die Regierung in Kiew.
Aber eine von der breiten Bevölkerungsschicht getragene Autonomiebewegung gab es 2014 in der Ostukraine nicht. Vielmehr nutzten separatistische Gruppen die Schwäche der Übergangsregierung in Kiew, die sich nach den Maidan-Unruhen gebildet hatte, zu einer Machtübernahme. Die Führungsfiguren waren laut FR-Osteuropa-Korrespondent Ulrich Krökel meist Russen mit Verbindungen zum Moskauer Militärgeheimdienst. Sie inszenierten ein Referendum und schufen die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk*, die keine Anerkennung fanden. Seit April 2014 sind Teile des Donezbeckens Schauplatz des Krieges zwischen ukrainischen Truppen und prorussischen Separatisten.
OSZE und UN: Keine Hinweise auf Völkermord
Zwar nannte Putin in der Pressekonferenz mit Scholz keine Belege für einen Genozid im Donbass, aber die Statistik der OSZE-Beobachtermission zeigt, dass im Donbass-Krieg mehr Zivilistinnen und Zivilisten auf der separatistisch kontrollierten Seite sterben als auf der Regierungsseite. Fachleute erklären das mit der Wahl der Waffen. Während die Separatisten meist Scharfschützen zum Einsatz bringen, die gezielt feindliche Soldaten eliminieren, sterben durch das Artilleriefeuer der ukrainischen Armee häufiger Zivilistinnen und Zivilisten, erläutert Krökel.
Amnesty International spricht von Kriegsverbrechen und wirft vor allem den Separatisten „willkürlichen Beschuss, Entführungen, Folter und gezielte Tötungen“ vor. Die Menschenrechtsorganisation hat aber auch Fälle von Entführungen und gewaltsamen Übergriffen durch ukrainische Paramilitärs dokumentiert. Aber für einen Völkermord im Donbass haben weder die OSZE noch die UN Hinweise. (Sonja Thomaser) *fr.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.