Strafmündig schon mit zwölf?

Im Sommer 2019 wird in Mülheim eine 18-jährige junge Frau vergewaltigt - von drei 14- und zwei Zwölfjährigen Jungen aus Familien bulgarischer Herkunft. Konservative wie der ehemalige Gewerkschaftschef Rainer Wendt holen sogleich Ladenhüter unter den populistischen kriminal- politischen Forderungen hervor: Strafmündigkeit müsse mit zwölf Jahren beginnen. Wirklich?
Von Arthur Kreuzer
Der Appell lautet zudem: »Heranwachsende« - zur Tatzeit also 18- bis 21-Jährige - seien nicht nur ausnahmsweise sondern regelmäßig wie Erwachsene zu bestrafen. Anfang Januar machte sich die CSU diese Forderungen prompt wieder zu eigen. Erste Rechtspolitiker der CDU zeigen sich offen dafür.
So war es auch 2010, als eine 83-jährige Rentnerin in München von zwei 13-Jährigen misshandelt worden war. In den 80er und 90er Jahren gab es ähnlich entstandene Forderungen, zumal im Zusammenhang mit Wahlkämpfen. Im Jahr 2000 erwirkten unionsgeführte Länder sogar einen entsprechenden Bundesratsbeschluss; sie konnten indes den Bundestag dafür nicht gewinnen. 2006 nahm der ehemalige Justizsenator Roger Kusch einen neuen vergeblichen Anlauf. Er wollte gleich das ganze Jugendstrafrecht samt Jugendgerichtsbarkeit über Bord werfen.
2016 übernahm ein Parteiprogramm - das der AfD - solche Forderungen: Die innere Sicherheit sei durch wachsende Kriminalität gefährdet, das Jugendstrafrecht zahnlos. Nur sofortige Inhaftierung junger Täter schwerer Delikte helfe. Strafmündigkeit müsse auf zwölf Jahre abgesenkt werden, weil Kriminalität immer früher einsetze; volljährige »Heranwachsende« seien strafrechtlich wie alle Erwachsenen zur Verantwortung zu ziehen.
Untergrenze im JGG bei 14 Jahren
Es erscheint hilfreich, zuerst Entstehung und Grundsätze des gegenwärtigen Rechts zu skizzieren: Erstmals wurde 1923 ein Jugendgerichtsgesetz (JGG) erlassen. Die Strafmündigkeit wurde von zwölf auf 14 Jahre heraufgesetzt; das erzieherisch ausgerichtete Jugendstrafrecht galt für alle 14- bis unter 18-Jährigen. NS-Recht ermöglichte es 1939, zum Schutze des Volkes gegen junge charakterlich abartige Schwerverbrecher schon ab zwölf Jahren Strafrecht, ab 14 Erwachsenenrecht anzuwenden. 1953 knüpfte eine Reform des JGG wieder an die Weimarer Zeit an: Straftäter ab 14 Jahren sind bedingt, also bei individuell zu prüfender entsprechender Reife, strafmündig. Neu ist ein Heranwachsenden-Recht: Auf junge Volljährige unter 21 Jahren ist bei einem Reifestand von Jugendlichen oder bei typischen Jugendverfehlungen Jugendstrafrecht anzuwenden.
Weiterhin ist zum Verständnis des Jugendrechts die Verzahnung von Straf- und Jugendhilferecht bedeutsam. Für strafmündige ebenso wie für noch unmündige Kinder, die durch Straftaten oder anderes Verhalten auffallen, sind bei Gefährdung des Kindeswohls Jugendämter und Familiengerichte zuständig. Sie können in das Personensorgerecht eingreifen, äußerstenfalls das Kind in eine Ersatzfamilie, ein Heim oder eine Behandlungseinrichtung verbringen. Verzicht auf Strafbarkeit heißt also nicht Verzicht auf Kontrolle.
Rechtsordnungen verschieden
Ein Credo moderner Kriminalpolitik lautet: wissensbasierte Gesetzgebung. Gesetzen sollen wissenschaftliche Erkenntnisse zugrunde liegen. Was aber können wir Wissenschaftler beitragen zur Jugendrechtsgestaltung? Konkrete Entscheidungen, vor allem auch bei zweifelhaften Befunden, obliegen immer den politischen Gestaltern. Festlegungen auf zwölf, 14, 18, 21 Jahre sind kompromisshaft, traditionsverbunden, abhängig vom Gesamtgefüge der konkreten Rechtsordnung und als solche nicht wissenschaftlich zwingend. Politisch wird ganz unterschiedlich entschieden. So hat Spanien die deutsche Altersregelung für Jugendliche und Heranwachsende übernommen. Belgien erklärt erst 18-Jährige für strafmündig. In Großbritannien gilt die unbedingte, in Frankreich die bedingte Strafmündigkeit ab zehn Jahren - dort jeweils so festgelegt nach spektakulären Verbrechen von Kindern.
Fragen wir also, wie die Argumente für neuerliche Forderungen aus fachwissenschaftlicher Sicht zu beurteilen sind. Zunächst zur Untergrenze strafrechtlicher Haftung: Zwar hat sich frühe Bildung in Kindergarten und Schule ausgeweitet. Die Pubertät beginnt früher. Doch die Entwicklung emotionaler, moralischer und sozialer Reife ist eher erschwert, verzögert. Das liegt an geradezu verwirrend vielfältigen, diffusen, sich stetig wandelnden Möglichkeiten, sich in Freizeit, Bildung und Berufen zu orientieren. Und an Wertumbrüchen, der Auflösung familiärer Erziehungsstrukturen, »heimlichen Miterziehern« wie den sozialen Medien, technischen Neuerungen wie Computerspielen, vermehrter Migration. Gründe genug, an der Untergrenze von 14 Jahren festzuhalten.
Sodann zum Heranwachsendenrecht: Bei der Herabsetzung der Volljährigkeit auf 18 Jahre wollte man wohlbegründet flankierend für eben noch nicht hinreichend sozialisierte, gefährdete junge Menschen an den Möglichkeiten des Jugendstrafrechts festhalten. Gerade schwere Delikte in dieser Altersstufe zeugen eher von mangelnder Reife. Das Gros der Straftaten in dieser Altersgruppe weist »jugendtümliche« Züge auf wie Planlosigkeit, Impulsivität, Imponiergehabe, Gruppenanpassung, spielerische Motivation. Daher wenden Jugendgerichte regelmäßig Jugendstrafrecht an. Man sollte das gesetzlich generalisieren. Dadurch würde man übrigens erheblichen gutachterlichen Einsatz einsparen.
Täter werden nicht immer jünger
Hauptargumente für die genannten Forderungen sind: angeblich zunehmende und immer früher einsetzende Gewalt und Kriminalität und die Notwendigkeit, frühzeitig strafend gegenzusteuern, um kriminellen Verfestigungen vorzubeugen. Kriminalstatistische Studien und anhaltende Dunkelfeldforschung weisen jedoch gegenteilige Befunde aus. Die Forderungen sind also nicht wissensfundiert. Längst hat sich als Mythos erwiesen, früher sei alles besser, etwa die Jugend weniger kriminell gewesen. Schon vor vier Jahrtausenden wurde in einer Keilschrift moniert: »Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende ist nahe.« Genannt sei dagegen beispielhaft die jüngst von den Forschern Klaus Boers und Jost Reinecke veröffentlichte langjährige Längsschnittuntersuchung bei 3000 13- bis 30-Jährigen in Duisburg. Sie bestätigt mit vielen anderen Studien folgende Erkenntnisse: Eine Verjüngungstendenz bei ersten Straftaten ist nicht nachweisbar. Jugend-, Sexual- und Gewaltkriminalität sind seit der Jahrtausendwende insgesamt und besonders bei Jugendlichen rückläufig. Unser Land gilt als vergleichsweise kriminalitätsarm. Das den Fakten entgegenstehende Bild wachsender Gewaltkriminalität in der öffentlichen Meinung speist sich aus verzerrender Darstellung und Wahrnehmung: Gewaltkriminalität ist überrepräsentiert in massenmedialer Darstellung. Bei fiktiver Kriminalität (»Krimis«) dominiert sie und nimmt zu. Gleichfalls begünstigt die sich ausweitende Bilderflut bei spektakulären Einzelverbrechen eine dramatisierende Wahrnehmung.
Dunkelfeldstudien zeigen seit eh und je, dass junge Menschen überwiegend irgendwann zumindest leichtere Straftaten begehen. Meist ohne jegliche förmliche Reaktion hört das wieder auf. Erzieherische Gespräche in Familie und Schule sind aber hilfreich. Strafende Reaktionen wirken sich eher nachteilig aus. Gelegentlicher Normbruch kann zum Erlernen der Norm beitragen.
Selbst der kleinere Anteil von Vielfach- oder Intensivtätern, der für den Hauptteil von Jugendkriminalität verantwortlich ist, wird später überwiegend wieder unauffällig. Man spricht von »Spontanbewährung«. Nur bei wenigen sind drastische, auch freiheitsentziehende Sanktionen angezeigt. Diese Gruppe von vornherein verlässlich zu erfassen, ist schwierig. Strafende Reaktionen müssen dann auf Wiedereingliederung bedacht sein. Im Allgemeinen wirkt Strafvollzug eher rückfallbegünstigend. Kräfte erlebnisarmer zwangsweiser Unfreiheit, anstaltsinterner Subkulturen und ungünstiger Kontakte wirken der Resozialisierung entgegen. Unrealistisch sind Erwartungen an abschreckende Wirkung von hartem Strafvollzug, Jugendarrest (»Einstiegsarrest«, »Warnschussarrest«, »Schockinhaftierung«) und bestimmten Präventionsmodellen wie »Schnupperknast« oder »Gefängnisprobierprogramme«. Das belegt unter anderem. der amerikanische Sherman-Report.
Soziale Einwirkung weiterentwickeln
Am Jugendstrafrecht ist also festzuhalten. Es ist weiterzuentwickeln. Die erfassten Altersgruppen sind mit ihm noch stärker positiv beeinflussbar. Praktiker können mit neuen Formen sozialer Einwirkung Erfahrungen sammeln, Sanktionen angemessener gestalten, in der Mehrzahl der Fälle sanktionslos Verfahren einstellen, stattdessen oftmals sozial stützende Hilfen in Familie, Schule, Sozialarbeit, Bewährungshilfe veranlassen. Viele so gewonnene Errungenschaften des JGG sind mittlerweile in das Erwachsenen-strafrecht übernommen worden. Wir sprechen von der »Schrittmacherfunktion« des Jugendstrafrechts. Sie sollte erhalten bleiben. Folgen wir übereinstimmenden Empfehlungen von Jugendgerichtstagen, Juristentag, Jugendgerichtsvereinigung, kinder- und jugendpsychiatrischen Fachverbänden, Kinderschutzvereinigung, dem Deutschem Richterbund und demAnwaltsverein sowie der meisten kriminologisch-sozialwissenschaftlichen Experten: Rüttelt nicht an den Fundamenten des JGG, nutzt die jugendstrafrechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten, baut sie weiter aus zum Nutzen nicht zuletzt der »Inneren Sicherheit«.