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Realismus oder Affront? SPD-Hoffnungsträger rührt an Tabu und erntet Zustimmung - außer bei den Genossen

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Von: Florian Naumann

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Ergebnis des SPD-Mitgliedervotums zum Parteivorsitz
Berlin im Oktober: Das Kandidatenpaar Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken freut sich über den Einzug in die Stichwahl © dpa / Bernd Von Jutrczenka

Der Zustand der SPD gibt momentan einigen Anlass zur Häme. Ein Vorschlag des Scholz-Kontrahenten Norbert Walter-Borjans trifft auf viel Zustimmung - nur in der SPD nicht.

Berlin - Auch im Jahr 2019 hat die SPD Wahlschlappe um Wahlschlappe eingefahren - zuletzt gingen die Sozialdemokraten mit kümmerlichen 8,2 Prozent aus der Landtagswahl in Thüringen. In Sachsen kurz zuvor waren es gar nur 7,7 Prozent. In beiden Ländern steht die Partei an der Seitenlinie. Während andere versuchen, dicke Bretter zu bohren.

Die knapp 25 Prozent in Bremen wurden dem Anspruch der einst stolzen bremischen SPD ebenfalls kaum gerecht. Und auch in den Umfragen zur Bundestagswahl krebst die SPD nahezu zehn Prozentpunkte hinter ihren potenziellen Koalitionspartnern Grüne und CDU.

SPD und Norbert Walter-Borjans: Vorsitz-Kandidat gibt gewagten Ratschlag

Zeit, das eigene Selbstverständnis kritisch zu hinterfragen? Die Antwort eines Hoffnungsträgers für die Erneuerung der Partei lautet offenbar „Ja“: Norbert Walter Borjans, bei der Vorsitzendenwahl im Dezember zusammen mit Saskia Esken Kontrahent des Duos Olaf Scholz und Klara Geywitz, hat am Mittwoch einen Vorschlag gemacht, der tief an alte Ansprüche der Partei rührt. Und, so zeigt sich jetzt, offenbar vielleicht gerade deswegen bei einigen Genossen auf Widerspruch stößt.

Walter-Borjans riet seiner Partei davon ab, in ihrer jetzigen Verfassung einen Kanzlerkandidaten zu küren. „Ich glaube, ich würde erst mal dafür werben, dass wir einen Spitzenkandidaten aufstellen“, sagte er in einem Spiegel-Interview. Die SPD sei derzeit wohl nicht „an dieser Stelle“, „einen Kanzlerkandidaten aufzustellen“. Mit anderen Worten: Die Hoffnung auf die Rolle als stärkste Kraft in einem Regierungsbündnis scheint dem Parteilinken eher vermessen.

SPD-Anhänger wollen Kanzlerkandidaten - Konkurrenz stimmt Walter-Borjans zu

Eine Umfrage des Instituts Civey im Auftrag des Spiegel zeigt nun: Das Gros der Bundesbürger teilt die Einschätzung des SPD-Politikers. 57 Prozent der Befragten befanden, die SPD solle auf einen Kanzlerkandidaten verzichten. Die Meinung zieht sich quer durch alle politischen Parteien, von AfD bis Linke - einzige Ausnahme sind die Sozialdemokraten selbst. Gut 65 Prozent der Partei-Anhänger wollen eindeutig oder zumindest „eher“ einen Kandidaten fürs Kanzleramt ihrer Partei sehen. 

Ob im Urteil der anderen Lager Häme oder strategische Erwägungen mitschwingen, ist nicht eindeutig zu klären - klar scheint aber, dass die SPD-Wähler vom alten Anspruch (noch) nicht lassen wollen. Walter-Borjans sah sich dann auch zu einer Präzisierung genötigt.

„Selbstverständlich gehen wir mit einer Spitzenkandidatur und dem Anspruch in die nächste Bundestagswahl, als stärkste Kraft einer fortschrittlichen Mehrheit KanzlerIn zu stellen“, erklärte er auf Twitter. Zugleich fügte er hinzu: „Aber der Parteivorsitz der SPD ist kein Steigbügel für persönliche Karrierepläne.“

SPD: „NoWaBo“ will Posten nicht als „Steigbügel für Karrierepläne“ - Seitenhieb auf Scholz?

Spekulieren ließe sich darüber, ob sich hinter dem Satz auch ein kleiner Seitenhieb auf seinen Konkurrenten um den Parteivorsitz verbarg. Denn Olaf Scholz untermauerte im gleichen Interview seine Ambitionen auf eine Kanzlerkandidatur. Erst einmal gehe es um den Parteivorsitz. „Aber natürlich erwarten die Mitglieder der SPD, erwarten die Anhänger der SPD, dass die Führung der SPD die Fähigkeit besitzt, eine solche Kandidatur auch mit sich selber durchzutragen“, sagte er.

Letztlich dürfte es sich ohnehin um eine rein strategische Frage handeln - seit einem kurzen Strohfeuer nach der Nominierung Martin Schulz‘ zum Kanzlerkandidaten ist die SPD ganz weit weg von einer wie auch immer gearteten Mehrheit. Welche Variante den SPD-Mitgliedern sympathischer ist - es könnte sich im Dezember bei der Vorsitzendenwahl zeigen. Eins immerhin steht fest: Eine Abkehr vom Gewohnten wäre Walter-Borjans Vorschlag.

Auch als Freund der GroKo gilt Walter-Borjans übrigens nicht. Das Bündnis aus Union und SPD drohte sich zuletzt an der Frage der Grundrente zu entzweien. Die wurde von dem frühere NRW-Finanzminister in einem TV-Talk dann auch als „Sollbruchstelle“ der Koalition ausgemacht. In einer Umfrage vor der Stichwahl zum SPD-Vorsitz liegen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans vorn. Doch welches SPD-Duo wird sich schlussendlich durchsetzen? Das Ergebnis der Stichwahl um den Parteivorsitz wird am 30. November bekannt gegeben: Alle Fakten dazu im Live-Ticker.

fn

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